LITERATURFEST MÜNCHEN: Familienkisten. Erbstücke und ihre Geschichten

Lieblingsstücke unseres Publikums

Unter dem Motto »Was wir erben, was wir hinterlassen« befasste sich der Schweizer Schriftsteller, Dramatiker und Essayist Lukas Bärfuss vom 16. bis zum 24. November im FORUM des Literaturfestes München mit dem Thema Erbe in rechtlicher, historisch-politischer, künstlerisch-literarischer und biologisch-naturwissenschaftlicher Hinsicht. Es ging konkret um Themen wie (Vermögens-)Verteilung, aber auch um unsere Verortung in der Geschichte und politischen Gegenwart und um moralisch-ethische Themen. Welche Verantwortung übernehmen wir für unsere Hinterlassenschaften? Und wie erzählen wir davon?

In diesem Kontext baten wir unser Publikum, uns Fotos von Erbstücken und die dazugehörigen Geschichten zu schicken. Und waren begeistert von den vielen Zusendungen. Herzlichen Dank! Drei Erbstücke und ihre Besitzer*innen haben es bei der Veranstaltung mit Valentin Groebner & Lukas Bärfuss am 19.11.2023 auf die Bühne geschafft.

Alle anderen Erbstücke und die dazugehörigen Geschichten (teilweise in gekürzter Form) möchten wir hier auf diesem Blog veröffentlichen.

Gerda Adlhoch

»SPD-MITGLIEDSAUSWEIS VON JAKOB WEINBECK«

MItgliedsbuch 2Im Dezember 1924 kandidiert mein Großvater Jakob Weinbeck, gelernter Maurer, auf einer Liste »Reform« für den Donaustaufer Gemeinderat. Er (…) wird Mitglied im Gemeinderat.
Am 11.11.1928,(…) , tritt er in die SPD ein. Er kandidiert 1929 erneut für den Gemeinderat und wird wieder hineingewählt.
Am 31. März 1933 kommt es bei einer Gemeinderatssitzung zu einer hitzigen Debatte. Auf Anordnung der Regensburger NSDAP soll der 2. Bürgermeister J. Reith (SPD) sein Amt niederlegen (…)
Daraufhin hält mein Opa eine Rede, in der er kritisch nachfragt, wer dies angeordnet habe. Nach einer nicht überzeugenden Antwort des ersten Bürgermeisters erklärt er, dass er den Gemeinderat verlassen werde. Sechs seiner Parteigenossen schließen sich an. Sie gehen ins nahe Wirtshaus und diskutieren weiter. Auch politische Gegner sitzen im Wirtshaus. Jemand hängt meinen Großvater hin und er wird (…) vorübergehend in Schutzhaft genommen. Dann kommt das Verbot aller Parteien. Er zieht sich ins Privatleben zurück.
Nach dem 2. Weltkrieg holen ihn die Vorkommnisse nochmal ein. Der ehemalige Bürgermeister Max Brandl muss sich einem Entnazifizierungsverfahren stellen. (…) Mein Opa schreibt für ihnen Entlastungsbrief. Darin erklärt er, dass er ins KZ gekommen wäre, wenn sich Brandl nicht für ihn eingesetzt hätte.

( Nachzulesen in der Biographie von Jakob Weinbeck  // Battenberg-Gietl-Verlag)

Peggy Bahl-Christ

SCHULBUCH DER GROSSMUTTER

Ich durfte die Mutter meines Vaters leider nie kennenlernen, da sie sehr jung verstorben ist. Sehr viel weiß ich nicht über sie. Mein Vater war noch ein Kind als sie verstarb und alles was übrig ist sind ein paar Bilder und Dokumente.
Nun habe ich zufällig ihr altes Schulbuch aus der 3. Klasse auf dem Dachboden entdeckt, voll mit „kleinen Schätzen“ wie gepressten Blättern, (…) alten Lotteriescheinen und (mein Highlight!) einem vierblättrigen Kleeblatt. Es hat mich wirklich sehr berührt, diese Dinge zu finden und ich konnte mir vorstellen, wie sie diese kleinen Besonderheiten als Kinde gesammelt hat, sich darüber freute und sie dann an diesem ganz sicheren Ort verwahrte. (…) Auch ich habe als Kind kleine hübsche Dingen zwischen Buchseiten gelegt und freue mich heute, wenn mir mal was aus einem alten Buch entgegenpurzelt.
Dieser ganz besondere und persönliche Gruß aus der Vergangenheit bedeutet mir mehr als ein Sparbuch oder Geld, weil es mir ein Stück ihrer Welt zeigt und fast so etwas wie ein persönliches Treffen ist.
Der Fund hat mich zu diesem kleinen Gedicht inspiriert:

deine welt zwischen zwei buchdeckeln

deine welt kennt mich nicht
ich war nie teil von ihr
doch trotzdem
bist du teil von mir

deine welt ist so fern
getrennt durch die zeit
doch trotzdem
garnicht ganz so weit

deine welt, ich hab ein stück davon gefunden
zwischen zwei buchdeckeln versteckt
habe ich sie wiederentdeckt
und ich fühl mich dir verbunden
kleine schätze, behutsam zwischen papier
du bist nicht hier
doch trotzdem
bist du bei mir.

pbc

Evelyn Beyer

VERSCHIEDENE FOTOS

Kathrein Blättler

»DAS SÄCKCHEN AUS DER KÜCHE MEINER GROSSELTERN«

Kathrein Blättler Bild2Mit diesem gestrickten Säckchen aus Baumwolle hat meine Großmutter väterlicherseits bis in die 1950er Jahre hinein die Kartoffeln für rohe Klöße vorbereitet.

Die geschälten, in Wasser eingelegten Kartoffeln wurden von Hand gerieben, geschwefelt und dann nach und nach in dieses Säckchen eingefüllt. Dieses wurde sodann fest gedreht und gewrungen, damit möglichst viel Flüssigkeit herausgepresst werden konnte. So erhielt meine Großmutter eine relativ trockene Masse aus Kartoffelraspeln, die sie weiter zu Klößen verarbeitete. Aber auch Saft aus gekochten Früchten konnte so gewonnen werden. Der wurde von meiner Großmutter zu Gelee weiterverarbeitet. Am liebsten mochte ich ihr Quittengelee.

»DAS SAXOPHON MEINES GROSSVATERS«

Kathrein Blaettler Saxophon Bild
Kathrein Blättler: Das Saxophon des Großvaters

Mein Großvater mütterlicherseits, 1901 in kleinbäuerlichen Verhältnissen in Mittelfranken geboren, war von seinem Gemüt her mehr Musiker als Bauer. Darum spielte er im Nebenerwerb mit seiner Kapelle in den Dörfern zum Tanz auf. Dieses regelmäßige und saisonunabhängige Zubrot für die Familie bereitete ihm sehr viel Freude und beflügelte ihn geradezu.

Als in den 1970er Jahren die „Tanzböden“ auf dem Land weniger wurden, weil die Jugend in die neu entstandenen Discotheken abwanderte, hatte er an den Wochenenden häufiger frei. Stattdessen stieg er nun auf den nahegelegenen Hutzelsberg und gab dort oben, weit ins Land hinein hörbar, sein Repertoire auf dem Saxophon zum Besten. Wenn ich zu Besuch war, nahm er mich mit auf den Hügel, und ich hörte ihm voller Stolz und Bewunderung zu.

»EIN GEMÄLDE MEINES VATERS«

Blättler Erbstücke8Wir sehen eines der zahlreichen Gemälde meines 1932 geborenen Vaters, Malermeister von Beruf, der aber lieber bildender Künstler geworden wäre. Dieses großformatige Aquarell entstand im Jahr 1988 und es zeigt einen Ausschnitt von Ehrwald in Tirol, am Fuße der Zugspitze gelegen. Dieser Ort ist mir äußerst vertraut, weil ich mit meiner Familie jedes Jahr nach Weihnachten dort im Skiurlaub war. In meiner Erinnerung ist Ehrwald verschneit und die Wege und Straßen von meterhohen Schneebergen gesäumt. Auch 1988 scheint es in Ehrwald noch ordentlich Schnee gegeben zu haben. Ich selbst war bei diesem Skiurlaub nicht mehr dabei, da ich seit mehreren Jahren in Berlin lebte.

Almut Blümm

»VEREWIGUNG«

Diese Büste vom Grab meines Großvaters, gestorben 1938 im Sudetenland, musste mit auf die Flucht, auf dem Leiterwagen, versteckt im Federbett mit den Familienfotos und der Geige. Der Leiterwagen stand bis zum Tod meines Vaters vor 30 Jahren in unserm Truderinger Elternhaus, die Büste stellte mein Bruder dann in seinen Regensburger Garten.
Jetzt gerade wandert die Büste, nach dem Tod meines Bruders, in meinen Ramersdorfer Garten weiter. Dort liegt schon, als Schwelle vor dem Gartenhaus, der Grabstein der anderen Großeltern. Dieser Großvater ist 1929 in Schlesien gestorben, wurde aber hier mit auf dem Grabstein seiner Frau verewigt. Die schlesische Großmutter nahm auf die Flucht die kostbar gestickte Weihnachtstischdecke und die Kompottschalen mit, samt dazwischengehäkelter Deckchen zur Schonung des Kristalls, beides wird immer noch in Ehren gehalten.
Zeitgleich zur Reise der Großvaterbüste finde ich im Keller die bronzene Totenmaske der zugehörigen Großmutter aus den 1960er Jahren. Vor Jahren schon wollte ich sie spenden für das Carillon im Kirchturm der Mariahilfkirche. Aus dem toten Gesicht sollte eine Glocke werden, mein Vater liebte Glocken und die Dult. Dieser Plan einer würdigen Entsorgung gelang nicht, Glocken brauchen eine andere Legierung.
Ich beschließe jetzt die Entsorgung des traurigen Stücks, ohne vorher Mit-und Nacherben zu fragen, und wende mich an die Akademie der bildenden Künste. Aber auch dort wird für den Metallguss durch Studierende eine andere Legierung verwendet.
Der Studienleiter bekundet aber sein besonderes Interesse für Totenmasken und bietet an, die Maske zu Lehrzwecken in seiner Werkstatt zu behalten. Feinfühlig nennt er alternativ eine Recyclingfirma, falls ich ein Einschmelzen bevorzuge.
Mit großer Freude habe ich letzte Woche die Maske dorthin gebracht. Ich bin mir sicher: die Altvorderen wären einverstanden, beide Großeltern waren Lehrer. Und meine Kinder wissen jetzt, wo der Großvater hin kann, wenn sie dereinst meinen Garten räumen.

Susanne Büttel

KOCHGESCHIRR DES VATERS

Erbstück Susanne Büttel BildDieses Kochgeschirr habe ich von meinem Vater. Er hat es während seiner Gefangenschaft 1945 in Bad Kreuznach mit Hilfe einer Nagelfeile verziert.

Seine große Liebe zu den Bergen kommt zum Ausdruck, der ich wohl auch indirekt meine Existenz verdanke, denn dorthin ist er, (…) nach dem Krieg gezogen und hat meine Mutter kennengelernt, die dort Schutz vor Bombenangriffen in München gefunden hatte. Außerdem erinnert es mich an die wahrscheinlich schönsten Erlebnisse in meiner Kindheit, wenn wir als Familie beim Wandern unterwegs waren und in einer gemütlichen Berghütte übernachteten. Es erinnert mich an das Gemüt meines Vaters, der ein Mensch von großer Güte und Herzenswärme war. Und es erinnert mich auch an meine nicht gestellten Fragen.

Wir haben schon gelegentlich über seine Vergangenheit als Soldat vom achtzehnten bis zum vierundzwanzigsten Lebensjahr gesprochen, heute denke ich, zu wenig.

Ob man wirklich in die Antworten hineinleben kann, wie es einer meiner Lieblingsdichter so feinsinnig formulierte?

Fabienne Delacroix

»BRIEFE DES GROSSVATER AN DIE GROSSMUTTER«

Unbenannt 4Mein Großvater wurde 1914 im Norden Frankreichs geboren. Während des zweiten Weltkriegs wurde er von der Wehrmacht gefangen genommen und als Kriegsgefangener nach Deutschland gebracht. Die gefangenen französischen Soldaten wurden dort zur Arbeit auf dem Feld und in den Fabriken herangezogen. Während dieser Zeit hat sich mein Großvater in meine bayerische Großmutter verliebt. Während der Kriegsjahre habe sie die Beziehung im Geheimen geführt, immer in der Angst, entdeckt zu werden. 

Nach Kriegsende musste mein Großvater Deutschland verlassen und nach Frankreich zurückkehren. Den Kontakt zu meiner Großmutter hat er mit Briefen aufrecht erhalten, bis es ihm gelungen ist, zu Fuß und illegal aus dem Norden Frankreichs nach Bayern zurückzukehren.

Nach fast 80 Jahren sind wir als Familie immer noch sehr gerührt von den Briefen, in denen mein Großvater noch mit der deutschen Spache kämpft und sich mit meiner Großmutter über die Entwicklungen nach dem Ende des Krieges und die Pläne, wie und wann sie sich wiedersehen können, austauscht. Erstaunlicherweise dient dabei die Verfügbarkeit von Butter oft als Idikator für den wirtschaftlich Zustand der beiden Länder nach dem Krieg. Die damaligen Erfahrungen sind wahrscheinlich auch der Grund, warum bis heute bei uns immer ausreichend Butter im Kühlschrank sein muss.

Hans-Martin Gloël

»DIE GOLDENE UHR – EIN BESONDERES SYMBOL«

Gloel web
Bild rechts: Pfarrer Dr. h.c. Christian Simon David Gloël (1793-1879) /Mitte: die goldene Uhr / Links: Silberner Kelch. Geschenk der Kirchengemeinde Osterweddingen für C.S.D. Gloël zum 50. Amtsjubiläum 1864

In sechster Generation bin ich nun Erbe dieser goldenen Uhr, die mein Urururgroßvater Christian Simon David Gloël im Jahr 1864 zu seinem 50. Amtsjubiläum als Pfarrer in Osterweddingen bei Magdeburg erhalten hat. 
Ob er geahnt hätte, dass diese Uhr so lange in dem Sinn weitergegeben wird, in dem er es bestimmt hat? 
Immer der älteste derjenigen seiner Nachkommen soll diese Uhr erhalten, der Pfarrer wird. 
Sechs Generationen lang ist das nun so. 
Unter den Enkeln des Christian Simon David Gloël waren es drei Brüder, die Theologen wurden. 

Zuweilen aber hängt die Erbfolge an einem seidenen Faden: 
Mein Urgroßvater Johannes Gloël (1857-1891), der Älteste der Brüder, die Theologen wurden, war 1888 als Professor für Neues Testament nach Erlangen gekommen. Sehr jung ist er dort kurz nach einer Notoperation am eingeklemmten Bruch gestorben. Der große Tisch, auf dem die Operation in einer Nacht im Juni 1891 in seinem Studierzimmer erfolgte, ist ein weiteres heute noch vorhandenes „magisches“ Objekt in der Familie. 
Sein Sohn, mein Großvater, wurde erst ein halbes Jahr nach dem Tod des Vaters geboren. 
Die Familie drängte die junge Witwe, mit ihren beiden Kindern doch wieder in die Gegend von Magdeburg zurück zu kommen. Was wolle sie denn allein in Bayern. Aber nein: hier war sie mit ihrem Mann glücklich, hier wollte sie bleiben. Sechzig Jahre lang war sie Witwe, bis sie 1951 mit fast 96 Jahren im Pfarrhaus in Puschendorf bei Nürnberg starb. Und so ist die Familie heute noch in Bayern. 
Ja, aber die Uhr: meine ältere Schwester ist auch Pfarrerin geworden. Als erste Theologin unserer Generation meinte sie naheliegenderweise, dass die Uhr ihr zustehe. Als ich 1997 in Erlangen ordiniert wurde, hat sie mein Vater jedoch mir feierlich überreicht. 
Es war dann aber ganz diplomatisch, dass er sie zunächst doch noch bei sich behielt. 
Letztlich ist diese Uhr für uns alle ein Symbol dafür, dass in der Familie von Generation zu Generation immer wieder Menschen gesegnet wurden, um in Verantwortung vor Gott für die Menschen die frohe Botschaft weiter zu tragen. 

Roswitha Maria Gott

VERSCHIEDENE FOTOS

Florian Gründel

DER KLEINE BUDDAH

Florian Gruendel

Der kleine Buddha stand, bzw. saß, zu meines Vaters Lebzeiten auf dem Nachtkästchen neben seinem Bett. Ich habe nie erfahren wie mein Vater zu dem Buddha kam und was er ihm bedeutete. Wie auch sonst mein Vater in weiten Teilen für mich stets eine Art Blackbox geblieben ist. Ein Mensch den ich eigentlich nicht kannte, weil er mir zeitlebens auf eine eigentümliche Weise stets ein Unbekannter (kein Fremder!) geblieben ist.

Und obwohl ich also keine besonders enge Beziehung zu ihm hatte, habe ich die Vormundschaft (Betreuung) für ihn in seinen letzten Monaten übernommen. Das hat mich in die seltsame Situation gebracht sein “öffentliches Leben“ zu leben, hat mich ihm als Person aber kein Stück näher gebracht.

Erst später, als ich mich um seine überschaubaren Hinterlassenschaften kümmern müsste, bin ich auf Informationen gestossen die ein paar »Puzzleteile« über ihn ergeben haben. Dennoch fehlt immer noch der Großteil dieser »Puzzleteile«, und damit auch ein Teil meiner eigenen Geschichte.

Warum ich ausgerechnet dieses Stück aufgehoben habe? Vielleicht weil es ein Ding ist, das mir zumindest in seiner physischen Präsenz vertraut und bekannt ist, denn seit ich mich erinnern kann, gab es diesen Buddha. Er war immer da. Er ist für mich ein stellvertretender, be-greifbarer Teil meines Vaters.

Sigmund Hümmrich-Welt

LEDERTASCHE DES VATERS

Ledertasche

Bei der Tasche handelt sich um ein Erbstück, das ich von meinem Vater habe.

Mein Vater hatte in den 1950er-Jahren ein Friseurgeschäft in einem oberfränkischen Dorf. Es war damals noch üblich, daß mein Vater z.B. bei kranken oder älteren Kunden Hausbesuche (Rasieren, Haarschnitt) machte.

Bei diesen Besuchen hatte er immer das gesamte Werkzeug, wie Scheren, Rasiermesser, Leder zum Abziehen der Messer, After shave etc. in dieser Tasche. Die Tasche lag immer bereit am selben Platz im Friseursalon.

Gerhard Jäger

»DER POW (PRISONER OF WAR) SCHECK MEINES VATERS«

G JaegerIm Nachlass meines Vaters fand ich einen Auszahlungsscheck des amerikanischen Staates, den er für die dortige Arbeit als Kriegsgefangener im 2. Weltkrieg in den USA erhalten hatte. Ich wusste, dass mein Vater 1944 (…) in Cherbourgh gefangen genommen wurde und (…) per Schiff zunächst nach New York und dann weiter nach Granada in Mississippi transportiert wurde, wo er fast zwei Jahre lang als Kriegsgefangener in Baumwollfeldern arbeitete. Mein Vater, Jahrgang 1922, wurde 1941 als Sanitäter zur Wehrmacht eingezogen, hat aber über die Zeit bis zur Gefangennahme und über den Aufenthalt im Kriegsgefangenlager nie mit Familienangehörigen gesprochen. (…)

Über ein von Arnold Kramer 1995 veröffentlichtes Buch über deutsche Kriegsgefangene in Amerika erfuhr ich mehr über „seine“ Geschichte, über das Lager (Camp McCain, Mississippi) in dem er mit 7.700 anderen Deutschen interniert war. (…) Für ihre Arbeit in den Lagern, in Farmen und in Fabriken erhielten sie am Tag 80 Cent als Arbeitslohn. Mein Leben verdanke ich wohl seiner Gefangennahme, da der Krieg für ihn damit beendet war. Seine Erlebnisse hat er nie mitgeteilt, sondern bis zu seinem Tod für sich behalten. Warum er den Scheck für seine Dienste im Gefangenlager nie einlöste, weiß ich nicht. Er hatte ihn geschützt in einer Plastikfolie, wie einen Schatz aufbewahrt. Der Dollar-Wert betrug sogar noch nach der Einführung der DM 1948 dem 6-monatigem Arbeitslohn eines Arbeiters.

Florence Kimmenauer

TAGEBUCH DER MUTTER EINER FREUNDIN

Maria Kurz-Adam

»MEIN VATER«

Maria Kurz Adam BildAus der Kindheit und Jugend meines Vaters sind mir nur Bruchstücke bekannt, es gibt keine geschlossene Erzählung, mein Vater hat mit mir darüber kaum gesprochen. Ich habe also fast nichts, auf das ich meine Erinnerungen aufbauen kann. Meine Wurzeln sind reine Fantasie, sie haften in keiner Erde, treiben lose in meinem Kopf herum. Ich bin darauf angewiesen, mir meinen Teil zu denken, mir ein Bild zusammenzusetzen aus dem, was mir mein Vater mitgegeben hat, so dass ich es nicht vergesse. Zu diesen losen Teilen gehört die Erzählung von Anton Tschechow, Die Steppe, die er mir in meiner Jugend ans Herz gelegt hat. Den Sammelband der Erzählungen habe ich heute noch, eine bibliophile Ausgabe, die in der Reihe meiner von meinem Vater geerbten Bücher einen besonderen Platz einnimmt.

Die Steppe sei, so ist zu lesen, eine in vielen Teilen autobiografische Erzählung, in der Anton Tschechow die Erfahrungen seiner Kindheit verarbeitet habe.

Mein Vater, der sein Leben lang gerne gewandert ist und noch bis ins hohe Alter seine Zeit in der Natur verbracht hat, schätzte vor allem die Naturschilderungen der Erzählung, auch deshalb, so sagte er es mir in meiner Erinnerung, sollte ich die Geschichte dieser Reise lesen.

Ruth Loibl

TEPPICH AUS DEM ELTERLICHEN WOHNZIMMER

Der Teppich im elterlichen Wohnzimmer war schon ein Erbstück von den Großeltern auf meine Eltern. Seit langem ist er bei mir zuhause, sehr abgetreten, löchrig, groß und schön. Als Kind wanderte ich, bäuchlings liegend, mit Augen und Fingern in seinen Mustern. Es gab immer Störungen in der Regelmäßigkeit. Immer wieder war ich verwirrt. Später zeichnete ich den Teppich und nannte die Zeichnungen »Wohnung und Garten«, las über seine Herkunft – ein Belutsch.

2023 zeichnete ich den Teppich unter meinen Füßen und verschränke auf dem Papier Bilder meines alltäglichen Erfahrungsraums mit Bildern, die täglich vom Krieg über die Medien zu mir kommen.

Lisa Mach

DER ALTE OHRENSESSEL

Unbenannt 28
Lisa Mach im Sessel ihres Vaters

1953: Vater sitzt abends und am Wochenende immer in dem neuen, modernen Ohrensessel aus Dänemark und hört Opern: Verdi, Puccini, in voller Lautstärke. Mutter sitzt nie in dem Sessel. Sie ist Hausfrau, kocht, putzt und beaufsichtigt uns Kinder.

1988: Der Ohrensessel zieht mit um in einen Bungalow am Waldrand, weil Vater pensioniert wird. Nach einem Jahr stirbt er und ich sehe Mutter immer in dem Sessel sitzen.

2005: Mutter ist gestorben und wir Geschwister teilen Hausrat, Bücher, Möbel unter uns auf. Ich nehme den Ohrensessel, der verschlissen und durchgesessen ist. Der rote, gerippte Samt ist verblasst und hat Löcher. Ich schneidere mir aus altem, karierten Bettzeug einen Überzug zurecht.

2016: Ich ziehe in eine kleinere Wohnung, weil ich in Ruhestand gehe. Der alte Ohrensessel sieht schäbig aus, aber er muss mit. Ich habe in ihm viele Stunden, Tage, Nächte mit Büchern verbracht. Ich kaufe einen bunten Überwurf, jetzt sieht es wieder richtig gut aus, mein Erbstück.

2023: Ich sitze in meinem alten Ohrensessel, auf dem Schoß meine fünfjährige Enkelin. Ich erzähle ihr die Geschichte des alten Sessels, der einmal ihrem Urgroßvater gehört hat. Sie fragt: Wenn du mal tot bist, kriege ich dann den Sessel?

Ursula Meisinger-Reiter

»DAS PURE GLÜCK«

Bär

Das Foto von 1949 zeigt meinen Bruder Walter und mich. Einige Wochen vor Weihnachten – so die Erzählung meiner Eltern – verschwand plötzlich der vorherige, bereits sehr abgeliebte Teddy, den wir uns teilen mußten (ich nehme an aus Hygienegründen).

Natürlich bekamen wir nicht sofort wieder einen neuen, denn so kurz nach dem Krieg herrschte Mangel an allem, auch an Kinderspielzeug.

Und so waren diese beiden Teddys sicherlich für meinen Bruder und mich damals das allerschönste Weihnachtsgeschenk und das pure Glück – und endlich hatte auch jeder von uns einen eigenen Teddy zum Liebhaben.

Das Foto hat mein Vater, Max Meisinger, ein Fotograf, gemacht.

Gisela Mertel-Schmidt

Giesela Mertel Schmidt

Ist sie nicht elegant, die Dame aus Porzellan? Sie gehörte meiner Großmutter. Ihr Leben, so wie ich es gekannt habe, hatte so gar nichts Elegantes. Aber dass sie davon geträumt hat, die junge Frankfurter Bankangestellte, die dann auf eine Annonce geantwortet hat, kann ich mir vorstellen. Immerhin ist sie als alte Dame noch in Münchens Innenstadt, zwischen Hotel Vierjahreszeiten und Kammerspiele gezogen und hat ihren Leberkäse nur bei Dallmayer gekauft.

Rita N.

KARTENSTÄNDER DER GROSSMUTTER

Rita N webMeine Großmutter hatte dieses Erbstück hier wiederum von ihrem Lieblingsonkel Richard, Bruder ihres Vater.

Er war ein lustiger, netter Mensch, gesellig, Familienmensch und nahm sich Zeit für seine Nichten und Neffen – er spielte Karten mit ihnen, brachte ihnen Kartentricks beim sonntäglichen Kaffeetrinken bei. Und er hatte eben auch einen eigenen Kartenständer mit Monogramm R plus K für den Nachnamen.

Meine Großmutter erzählte diese Geschichte gerne, mit glänzenden Augen. Und das Ende der Geschichte: Onkel Richard verstarb an den Folgen seines Kriegseinsatz im 1. Weltkrieg, Verdune. Man mag sich seine Erlebnisse dort nicht vorstellen. Für mich als Kind aus den 60igern war es der erste persönliche, direkte, konkrete und nicht abstrakte Eindruck von Krieg. Unmittelbar und nicht aus einem Geschichtsbuch. Nette Menschen gehen in Krieg.

Bis heute. Daher steht der Kartenständer nun bei mir. Als Mahnung und Erinnerung.

Tina Rausch

Unbenannt 35

Als ich ein Kind war, umarmte mich meine Mutter. Geborgen in ihren Armen, fuhr ich mit dem Finger über die kleine Kuhle zwischen ihren Schlüsselbeinen. Sie faszinierte mich. Das schwarze Medaillon, das sie an einer goldenen Kette um ihren Hals trug, war wie dafür geschaffen. Ich legte es hinein.

– Schluck mal!, forderte ich sie auf und war begeistert, wenn sich das Medaillon bewegte, doch in der Kuhle liegen blieb. In seinem Inneren steckte ein Foto ihres Vaters, meines Großvaters, dem ich nie begegnet bin.

Seine Taschenuhr trug sie ums Handgelenk. Das Ziffernblatt war durch die Umarbeitung um 90 Grad gedreht, die Zwölf wies also nicht vom Körper weg, sondern zu ihrer Hand hin. Wer einen raschen Blick auf die Uhr warf, war verwirrt. Die Sekunde der fremden Irritation gefiel ihr – und Jahre später mir.

Heute besitze ich die Uhr meines Großvaters. Meine Mutter hat sie mir zum Uniabschluss geschenkt. Dass sie und mein Vater kein Abitur gemacht haben, erfuhren meine Schwester und ich erst als Erwachsene. Im Alltag begleitet mich eher die Uhr, die meine Mutter bis zuletzt trug. Eine kleine filigrane Damenarmbanduhr.

Bei meiner Schwester steht ein Bild, das unsere Eltern auf dem Oktoberfest 1969 zeigt. Sie sehen glücklich aus. Meine Mutter hält in der rechten Hand eine Zigarette und in der linken einen Maßkrug, dessen dicker Rand bis zu ihrer unter einer weißen Bluse verdeckten Kuhle zwischen den Schlüsselbeinen reicht. Am Handgelenk ist die filigrane Uhr zu sehen. Und meine Schwester fragt:

– Wo war ich winziges Baby eigentlich, als die beiden in der Bräurosl saßen?

Undine Schneider-Haas

FOTO DER POLITIKERIN MARGOT KALINKE

Unbenannt 5Das Foto zeigt meine Tante, die Politikerin Margot Kalinke, 1974 bei der Verleihung des »Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern« durch den damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann. Sie war eine sehr starke Frau, die während der Kriegs- und Nachkriegsjahre ihre Mutter und Geschwister anstelle eines nicht existenten Vaters versorgte. Seit der Konstituierung der Bundesrepublik gehörte sie zu den ersten Parlamentarierinnen, war in der CDU als sehr streitbare Sozialpolitikerin aktiv und hat sich insbesondere für Frauenrechte eingesetzt. So konnte sie 1957 zusammen mit Dr. Elisabeth Schwarzkopf (erste Ministerin in einem Bundeskabinett, 1961-66) durch die Unterstützung des Oppositionsantrags eine Wiederaufnahme der sog. Stichklausel (»Das letzte Wort liegt beim Ehemann«) in das Gleichberechtigungsgesetz verhindern. Von Konrad Adenauer befand, dass sie »mehr wert als drei Männer« sei – was auch immer das bedeuten mag ….

Während meiner Teenagerzeit habe ich meine Tante, die 1972 aus dem Bundestag ausschied und zum Familienanschluss zu uns nach München zog, intensiver erleben »dürfen« und unter ihrer sehr dominanten Art durchaus gelitten. Ich erinnere mich an regelmäßige Vorträge zur politischen Lage – auch am Weihnachtsabend, die meinen Wunsch nach harmonischem Beisammensein torpedierten oder die Reibung an ihren für mich vollkommen antiquiert wirkenden Moralvorstellungen. Diese negative Koppelung von Politik per se an ihre Person hat mein Interesse für jene letztendlich jedoch nicht verhindern können – es ist sogar mit zunehmendem Alter deutlich gestiegen!

Heute denke ich eher mit einer Mischung aus Be-/Verwunderung und auch Dankbarkeit an sie, denn schließlich hat sie auch ihre Schwester (meine Mutter) während des Krieges und auch danach als Witwe sehr unterstützt – bis meine Mutter wieder heiratete.

Petra Teufel

»DAS BUFFET«

Teufel webDieses Möbelstück steht beispielhaft für die Erbstück/Erinnerungsstücke, die ich von meiner Familie habe.  Meine Eltern wollten sich verkleinern, was ein nachvollziehbarer Wunsch alter Menschen ist. Als meine Mutter mich fragte, ob ich mit dem Riesentrum etwas anfangen könne, verneinte ich zunächst. In welche Wohnung passt so ein Möbel heutzutage rein? Dann erzählte sie mir die Geschichte zu dem Buffet.

Bei meiner Großmutter arbeitete gegen Ende des zweiten Weltkrieges eine russische Hausangestellte. Mein Großvater, der als Arzt in Russland war, hatte Olga geschickt, da sie wohl Deutsch lernen wollte. Als die Amerikaner Bamberg besetzten, brauchten sie Wohnungen für Offiziere und Soldaten. Meine Großmutter mit Urgroßmutter und meiner Mutter wurden aus ihrer Wohnung vertrieben. Sie kamen in Oberbayern unter. Olag schickte meine Großmutter mit der beruhigenden Zusicherung weg, dass sie als Russin und Alliierte nicht aus der Wohnung vertrieben werden könne und auf die Einrichtung und Wertgegenstände aufpassen könne. Sie machten einen Mietvertrag und meine Großmutter packte zusammen und verließ Bamberg. So ist es gekommen. Olga verteidigte die Wohnung und nach dem Krieg hatten meine Großeltern noch ihre Möbel und Wertgegenstände. Olga heiratete einen amerikanischen Soldaten und wanderte in die USA aus.

Ich nahm das Buffet in unseren Haushalt auf, weil ich dachte, wenn das Möbelstück aus der Familie verschwindet, dann verschwindet auch Olgas Geschichte und das Gedenken daran, wie sehr sie meiner Familie geholfen hat.

Elisa Vogt

»DER SEKRETÄR«

Elisa Vogt web

Ich stand auf einem großen Gut in Westfalen und ich war so schön, so alt und so stolz.   Ihr glaubt gar nicht, was für eine wunderbare Rinde ich hatte und wie oft der alte Schulze Maier Landmann mit seinem Stock daran klopfte. Dann fragte er »Bäumchen wem gehörest du?«, als hätte das nicht jedermann gewusst.

Die Blätter hatte ich in diesem Jahr bereits verloren. Sie hatten meine Früchte aufgeklaubt, die Stimmen klangen noch in meinen Ohren.

Ich hörte sie wohl in der Ferne sägen und weiß, wie ich mich still verneigte und Abschied nahm von den Geschwistern. Selbst heute spüre ich ihn, diesen Schmerz. Das Schlimmste war der erste Schnitt, der erste tiefe Keil, das nackte, frische Holz unter der Rinde. Löcher bohrten sie durch meinen ganzen Stamm. Dann schrie er „Achtung!“ und ich brach zusammen. Ich fiel und fiel, betäubt vom Duft nach Harz und Holz… und ich vergaß…

            …Bis zu jenem ganz besonderen Tag. Da erinnere ich mich noch genau. Es muss wohl in den 60-ern gewesen sein. Es war Advent und es war bitterkalt. Da stand ich zwischen all den Möbelstücken im Münsterland.

Wie heute weiß ich noch, als ich sie sah, das Fräulein Frede, mit seinem kurzen, grauen, lichten Haar und dem erikafarbenen Gewand. Ganz stolz stand sie mit dem Ersparten in der Hand. Sie schaute lang umher und immer wieder fiel ihr Blick auf mich. Bei mir blieb sie am längsten steh´n. Sie roch nach Wasser und nach Seife, sie lächelte so schön.

Ein Sekretär aus Eiche sollt´es sein, gar passend zu dem andern Mobiliar.

Ich straffte mich in meinem Holz, ließ  die Scharniere blinken, als seien sie aus Gold.

Sie zog die Schubladen, sie liefen wie geschmiert und auch die Schlüssel drehten sich noch glatt. »Geheimfächer«, so hörte ich sie sagen, »das ist schon was!«

»Den nehm´ich«, sagte sie entschlossen, »da muss ich nicht lang zögern, dies Möbelstück, das hat´s mir angetan. Ich sehe schon den Platz in meiner neuen Wohnung, an dem ich Briefe schreiben kann.«

Dann kam der Umzug von dem Möbelhaus in diese kleine Straße, wo sie das Alter nun verbringen sollte. Wir hatten viele gute Stunden, bis sie dann 1986 starb.

Sie schrieb auf mir unendlich viele Briefe auf feines Briefpapier, mit blauer Tinte, die aus der Feder kam. Ihr Blick fiel dabei gerne in den Garten, für den Gedanken, den sie dann gebar. Die Schubladen enthielten viele Briefe, die sie zurück bekam.

Meist war es im Oktober, wenn Fräulein Frede kam mit Bienenwachs. Sie pflegte mich mit ganzer Inbrunst, gar zärtlich fast. Ich sah sie dann mit feinem Lächeln summen, vom Lüneburger Heideland. Auch ein getrocknet Sträußchen zog sie jetzt behutsam aus seinem Fach. Das Taschentuch, das hier enthalten, betrachtete sie nun wie einen Schatz.

Ich hörte sie ganz leise lesen, von damals und es ist: als sei es gerade erst gewesen.

Sie hatte mich der Nichte lang versprochen, bevor sie starb. Dann kam ich aus dem Münsterland nach Bayern, wo ebenfalls viel alte Eichen steh´n. Auch hier fühl´ ich mich heute sehr willkommen, kann jetzt auf völlig andere Bilder sehen.

Die Nichte fand in dem verborgenen Fach nach all den Jahren ein trocken Sträußchen in einem Herrentaschentuch:

»In rosa Heidekraut den Leib ich strecke
Das Taschentuch ich auf die Augen breit
Weit von mir ich die schlaffen Glieder recke
Und dehne mich in süßer Müdigkeit.« (Hermann Löns)

M. Volkmann

»WIE FERNANDEZ PRAY MICH ENTFÜHRTE….«

Volkmann web»Das ist südamerikanisch«, so versprach es zumindest der Titel der Schallplatte aus der Plattensammlung meines Großvaters, die mich als Zwölfjährige einige Zeit begleitete.

Mein Großvater, den ich nicht wirklich kennenlernen durfte, starb, als ich noch ein kleines Kind war. Er war ein Liebhaber klassischer Musik und besaß eine ausgesuchte Klassik-Schallplattensammlung. Warum und wie diese Single in seinen Besitz kam, ließ sich nicht mehr klären.

Später musste meine Mutter, in deren Besitz sich dann dieses »Erbstück« befand, versprechen, wenn sie mir nur eine einzige Sache vererbt, dann sollte es diese Schallplatte sein. Selbiger Bandleader hatte bereits andere Platten mit Titel wie »So tanzt man in Rio« oder »Mitternacht in Rio« herausgebracht. Und lieferte in den 50er und 60er Jahr die musikalische Grundlage für das Erlernen von Cha-Cha-Cha oder Rumba in hiesigen Tanzschulen.

»Eso es el amor«, »Quien sera« oder »El Cumbanchero« brachten ein wenig Retrostimmung und die Vorstellung südamerikanischer Lebensart in mein Jugendzimmer. Die Platte wurde unzähligen Male auf der alten Schneider-Stereoanlage abgespielt und ließ mich für einen kurzen Moment eine kleine Reise aus der niedersächsischen Provinz in schummerige Tanzschuppen irgendwo in Kuba antreten.

Oft stellte ich mir vor, wie es sein mochte, sich im vierviertel Takt über die Tanzfläche zu bewegen oder einen gekonnten Hüftschwung hinzulegen. Viele Jahre später spielte ich die Platte wieder ab, doch erschien es mir, als ob ich diese Musik zum ersten Mal hörte. Die Intensität, Lebensfreude und das Fernweh waren nur noch eine wage Erinnerung.

Barbara Wollstein Pinheiro

Barbara Pinheiro web

Erben kann man nicht nur von den Altvorderen.
Dieses Haferl und das Mobile schenkte ich meinem 10 Jahre jüngeren Bruder im Januar 1982 zum 27. Geburtstag. Er war ein begeisterter Flieger. Im August stürzte er ab.
So erbte ich die beiden Gegenstände und sie begleiten mich bis heute.

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