Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Nominierte,
es ist mir eine große Ehre und Freude, hier und heute die Laudatio auf den Gewinner des ersten Preises der Doppelfeld Stiftung halten zu dürfen. Der Gewinner heißt, sie wissen es ja schon, Cihan Acar und sein Debütroman trägt den Namen »Hawaii«.
Nun könnte wenig trügerischer sein als dieser Titel. Und damit wenig typischer für ein Buch, was einen immer wieder aufs Glatteis führt, mit den Erwartungen der Lesenden spielt, sie bedient und enttäuscht, sie zuspitzt, vorführt und in sich zusammen fallen lässt. Hawaii, das ist kein Ort mit Strand, Wellen und Korallen. Das ist auch kein Drehort der nächsten Staffel Dschungelcamp. Sondern Hawaii ist der trostlose, von einer migrantischen und migrantisierten Unterschicht geprägte Wohnort in der süddeutschen Stadt Heilbronn.
Heilbronn, als Berliner musste ich das Googeln, ist die siebtgrößte Stadt von Baden-Württemberg und besitzt eine Innenstadt, die nach dem 4. Dezember 1944 vollständig wieder aufgebaut werden musste. Wir brauchen also nicht nach Heilbronn fahren, um uns Heilbronn vorzustellen. Heilbronn, das ist überall. Und Hawaii, das ist ein Ort zwischen Betonwand und Autowaschanlage, Wettbüro, Shoppingcenter und Stripclub.
In Hawaii ist der Protagonist des Buches groß geworden. Er heißt Kemal Arslan. In seinen jungen Jahren, die vor der Erzählzeit des Buches liegen, ist er für den Profifußball in die Türkei gegangen. Und weil das nicht viele schaffen, schon gar nicht aus Hawaii, gilt er als große Hoffnung dieses kleinen abgehängten Stadtteils. Hier weiß einer, wovon er schreibt, man merkt das und findet später heraus, dass der Autor des Buches auch den Feelgood-Fanratgeber »111 Gründe, Galatasaray zu lieben« verfasst hat. Galatasaray, falls Sie das nicht wissen, ist ein Kult-Fußballverein aus Istanbul, der im Buch nicht auftaucht.
Der Protagonist geht stattdessen zu Gaziantepspor, um Fußball zu spielen. Dort ist er nicht der einzige türkeistämmige deutsche Profifußballer, sondern er teilt sich den Ruhm mit anderen almancı, die in der Kabine zwischen den Ausländern und den Einheimischen sitzen, weil sie mit den Worten des Buches »von beidem etwas« (S. 42) haben. Einer von ihnen, Ersin, provoziert Kemal zu einem Wettrennen, auf was er sich Zurück-in-die-Zukunft-mäßig auch einlässt. Das Rennen geht nicht gut für den Protagonisten aus und er verletzt sich so stark, dass er seine Karriere an den Nagel hängen muss.
Das Publikum lernt Kemal als besiegten Profifußballer und gescheiterten sozialen Aufsteiger kennen. In vier aufeinanderfolgenden Tagen folgen wir dem jungen Mann mit schmerzenden Beinen durch Heilbronn, wir er versucht, an alte Freundschaften anzuknüpfen und auch seine alte Liebe zurückzugewinnen, Sina, die in einem Villenvorort wohnt. Dabei geht es gar nicht nebenbei, aber ganz selbstverständlich auch um Klassenzugehörigkeit. Denn der Villenvorort ist das Gegenbild zu Hawaii. Sina ist blond und deutsch, Kemal dunkelhaarig und seine soziale Herkunft haftet ihm mit einer Klebrigkeit an, die ihn immer wieder in das Viertel zurückzieht, aus dem er kommt.
In Heilbronn ist es während der Erzählzeit des Romans sehr heiß. Der Text beschreibt diese Hundstage mit großer Eindringlichkeit, jene Tage im Jahr, an denen kein Luftzug weht und sich die hastig vom Dachboden oder hinter dem Kleiderschrank hervorgekramten Ventilatoren langsamer durch die zähle Luft arbeiten. Und diese Hitze ist natürlich mehr als ein Setting, sie ist auch eine Metapher für die aufgeheizte Stimmung, die unterhalb der Oberfläche dieses Romans brodelt und am Ende offen herausbricht.
Und damit komme ich auf den Punkt, der mich beim Lesen und Nachdenken über diesen Text ganz besonders beschäftigt hat: die Frage nach der Gewalt. Am Ende der Geschichte kommt es zu einer Nacht voller Straßenschlachten zwischen den migrantischen Kankas und eine Gruppe aus ganz Deutschland angereister Wutbürger. Die Kankas sind einfach als Verkehrung der migrantischen Selbstbezeichnung »Kanaks« zu entziffern. Die Wutbürger treten mit dem Slogan »Heilbronn, wach auf!« an, was kein Zweifel daran lässt, wessen Geistes Kind sie sind.
Hier ist die Temperatur nicht mehr Sommer, auch nicht bloß Klimaerwärmung, auch wenn eine Zunahme solcher Hundstage wohl nicht ohne Effekt auf die gesellschaftlichen Verhältnisse bleiben wird. Die Temperatur steht hier für eine gesellschaftliche Atmosphäre, wobei Cihan Acar mit der eine sehr präzise Frage aufwirft. Und die lautet: Wer wird eigentlich auf der anderen Seite dieses derzeit von rechts herbeigedachten, herbeigebombten und herbeidemonstrierten Bürgerkriegs stehen? Wer wird die Leute beschützen, wenn der Staat es offensichtlich nicht einmal schafft, die rechten Chatprotokolle und Adressabfragen bei seiner Polizei zu unterbinden.
Die Antwort, die der Autor uns gibt, ist beunruhigend und plausibel zugleich. Denn diejenigen, die sich gegen den Angriff der Rechten wehren, entstammen eben jenem zwielichtigen Milieu, dem der Protagonist eigentlich das ganze Buch über zu entfliehen sucht: die Spieler*innen und Gangster, Schulhof-Rambos und Hehler mit den großen Träumen und kleinen Bewegungsspielräumen. Sie sind es, die eine Verteidigungslinie ziehen, weil sie nicht wegkommen, weil sie keinen Platz im Profifußball gefunden haben. Und weil sie auch nicht wegwollen.
Was dabei entsteht ist eine Art Fantasie von einer deutschen Black Panther Bewegung, die doch vor allem die Fantasie einer allgegenwärtigen Bedrohung ist. Der kann auch der Protagonist mit seiner ostentativen Passivität und abschließenden Flucht aus Heilbronn nicht lösen. Heilbronn, ich sagte es ja bereits, ist überall.
Nun kann man über dieser Gegengewalt der Kankas sicherlich unterschiedlicher Meinung sein. Man kann mit dem Protagonisten sagen, dass es die alleinige Aufgabe des Staates ist, für Recht und Ordnung zu sorgen. Man kann, ebenfalls mit dem Protagonisten, sagen, man möchte mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Das kann man alles sagen und das weiß der Text auch. Dennoch oder gerade deswegen stellt er die beunruhigende Frage, was man macht, wenn der eigene Wille keine Rolle mehr spielt. Wenn man sich der Gegenwart nicht entziehen kann, so sehr man es sich auch wünscht.
Oder, um das mal in die Gegenwart zu übersetzen: Was bedeutet der NSU, die Angriffe von Halle und Hanau für diejenigen, die von diesen Angriffen bedroht werden, die die Fotos der Toten im Fernsehen sehen und darin die Verwandten und Kinder wiedererkennen, die neben ihnen sitzen, die Nachbarstädten wohnen und die auch nicht einfach wegkönnen. Die es auch nicht wollen, weil sie ein halbes und nicht selten ganzes Leben dort verbracht haben. Was für Handlungsoptionen haben die. Haben wir?
Und hier ist Kunst ein Ort der Fragen. Ein Ort, der das Innere erkundet, die Kränkung, die in der Hilflosigkeit liegt, die Sehnsucht, sich endlich zu wehren, die Wut auf diejenigen, die mächtiger sind und geschützt werden, die demonstrieren dürfen, während die eigenen Leute in Kreisen stehen müssen um zu trauern. Diejenigen also, gegen die nahezu nichts unternommen wird, solange es nur die Kanaks, oh Pardon, die Kankas bedroht. All das erzählt der Roman »Hawaii«, behutsam und ohne die Gewalt zu glorifizieren, aber auch ohne Naivität. Sondern mit einem wachen Auge dafür, dass es heißer wird in diesem Land.
Wir werden verdammt angewiesen sein auf solche Bücher, je höher die Temperatur steigt. Denn nur wenn wir uns zuhause fühlen hier, geschützt, gewertschätzt und anerkannt, wird diese Gesellschaft weiter zu dem werden, was sie sich selbst und all ihren Mitgliedern versprochen hat: ein Ort zu sein, an dem man ohne Angst verschieden sein kann. Das Versprechen der pluralen Gesellschaft muss lauten »entweder alle, oder Keine*n!«. Und die Kunst ist auch dazu da, uns daran zu erinnern, was dabei auf dem Spiel steht.
Cihan Acar, danke für dieses furiose Debüt! Und Gratulation zum Preis.
MAX CZOLLEK
September 2020, München
Der PREIS DER DOPPELFELD STIFTUNG wurde am 17.9. im Literaturhaus München verliehen.
Der HAUPTPREIS, dotiert mit 6.000.- Euro, geht an den Roman »Hawaii« von Cihan Acar (Hanser Berlin), die mit jeweils 3.000.- Euro dotierten FÖRDERPREISE gehen an »Otto« von Dana von Suffrin (KiWi), »Drei Kilometer« von Nadine Schneider (Jung & Jung), »Flüssiges Land« von Raphaela Edelbauer (Klett-Cotta) und »ewig her und gar nicht wahr« von Marina Frenk (Wagenbach).
MAX CZOLLEK wurde 1987 in Berlin geboren. Er ist Mitglied des Lyrikkollektivs G13 und Mitherausgeber der Zeitschrift »Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart«. Mit Sasha Marianna Salzmann kuratierte er 2016 den Desintegrationskongress und 2017 die Radikalen Jüdischen Kulturtage am Maxim Gorki Theater. Die Gedichtbände »Druckkammern, Jubeljahre und Grenzwerte« erschienen im Verlagshaus Berlin, bei Hanser die Sachbücher »Desintegriert euch!« (2018) & »Gegenwartsbewältigung« (2020).