WAS KANN EINE LESUNG, WAS DAS LESEN ALLEIN NICHT KANN?
Diese Frage stellen wir uns beinahe täglich, denn schließlich ist genau das unser Anspruch: Wir wollen, dass unser Programm, dass unsere Ausstellungen, Diskussionen und Lesungen das eigene, das private Leseerlebnis unserer Zuschauerinnen und Zuschauer nicht ersetzen, sondern ergänzen und erweitern. Wir wünschen uns Momente, die nicht nur das abbilden, was im Buch steht, sondern ein kluges, unterhaltsames und bestenfalls auch kunstvolles »Mehr« sind. Wir wünschen uns, dass die Kulturform »Lesung« etwas ist, an das man sich erinnert, wie an ein Theaterstück. Und obwohl dieser Anspruch in unseren Köpfen immer gegenwärtig ist, ist man dann doch immer wieder selbst überwältigt, wenn man genau das erlebt: diesen Moment, wenn sich etwas vom Blatt löst und unsere Bühne zu einem besonderen Ort wird.
DAVID GROSSMANN, einer der bekanntesten und international erfolgreichsten israelischen Autoren, war am 7. April 2016 unser Gast. Die Lesung war seit Wochen ausverkauft. Zusammen mit Julika Griem von der Universität Frankfurt, die das Gespräch mit dem Autor führte und übersetzte, und dem Sprecher Helmut Becker, der dem Literaturhaus-Publikum seit nunmehr 19 Jahren bekannt ist, stellte er seinen aktuell in deutscher Übersetzung erschienenen Roman »Kommt ein Pferd in die Bar« (Aus dem Hebräischen von Anne Birkenauer, Hanser) vor.
Grossman erzählt darin die Geschichte des Stand-Up-Comedian Dovele, der bei dem Versuch, sein Publikum bei Laune zu halten, von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt wird. Das Buch: große Literatur. Der Autor: sympathisch. Die Moderatorin: geistreich. Der Vorleser: perfekt. Man freute sich auf einen schönen Abend. Doch was dann kam, war schlicht atemberaubend.
Die kluge Julika Griem führte brillant und eloquent durch einen Abend, der sich als einer der schönsten in meiner eigenen Literaturhaus-Zeit herausstellen sollte (und das sind immerhin auch schon 11 Jahre). David Grossman antwortete von Beginn an bereitwillig auf alle Fragen, er wurde schnell persönlich und schuf eine wunderbare Nähe zu seinem Publikum. Dann die erste Lesepassage. Helmut Becker las stehend am Pult, das ohnehin gespannte und aufmerksame Publikum wurde noch stiller. Die verschiedenen Tonlagen, die unterschiedlichen Temperamente der Figuren, die Geschwindigkeit des Dialogs, auch die Peinlichkeit eines Witzes, der im Roman nicht so recht zünden will – all das las Helmut Becker pointiert, dabei leicht zurückgenommen und perfekt temperiert. Und dann, nach einem Gespräch, das an Intensität immer weiter zunahm, stand Helmut Becker für die zweite Lesung auf: Dovele nimmt in seiner Comedy den Tod auf die Schippe, diesen gnadenlosen Begleiter seines Lebens, er heizt sein Publikum auf, stachelt es an, gemeinsam schreien sie und lachen sich schier kaputt: über den Tod, diesen albernen Gesellen!
Es ist eine Szene, die schon bei der eigenen Lektüre kaum auszuhalten ist, irr und verstörend und unglaublich beklemmend. Doch diese Lesung war mehr. Das Publikum schien vollständig gelähmt zu sein, während Helmut Becker die Seele des Textes aus jedem einzelnen Wort holte. Allen im Saal war klar: das war ganz großes Lesetheater, das war großer Ton und große Geste – doch nie zu groß. David Grossman blickte unverwandt auf den am Pult lesenden und so ganz mit seinem Buch verwachsenen Helmut Becker. Das Publikum war atemlos. Einigen blieb buchstäblich der Mund offen stehen. Ein Ausbruch von Wahnsinn.
Der Funke sprang über – im Text und im Saal: »Applaus für den Tod! Applaus für den Tod!!!«. Danach: eine Sekunden-Stille. Dann ein leises, ein ganz leises »Bravo«. Dann ein sehr langer Applaus.
Und dann kam die Schlussrede von Grossman: politisch, philosophisch, mit der ganzen Erfahrung eines Lebens, das nicht einen einzigen Tag ohne Krieg kennt. Es war das ergreifende, so kluge wie leidenschaftliche Plädoyer für einen Frieden zwischen Israel und Palästina. 342 Menschen haben es gehört. Man wünschte sich, dass es 3 Millionen gewesen wären. Als David Grossman dann noch zwei Seiten auf Hebräisch las, war spürbar, wie sehr einige der Zuschauer berührt wurden. Lange Signierschlange. Ein Gefühl von Stolz. Und der Gedanke: Ich war bei einem entscheidenden Ereignis dabei.