LESUNGSKRITIK: ›How (not) to write a dissertation‹

oder wenn Teju Cole zweimal klingelt

Straßenszene, Nigeria © Teju Cole
Straßenszene, Nigeria © Teju Cole

Wie es sich wohl anfühlt, wenn einem das Vertraute fremd geworden ist, habe ich mir am Rand von Kapitel sieben notiert. Welche Erinnerungen plötzlich wieder wach werden, zurück am Ort der eigenen Jugend, auf der Spurensuche nach Identität und Zugehörigkeit. Immer in der Ungewissheit, ob man nicht doch schon zum »outsider« geworden ist. Wie es sich wohl anfühlt, zwischen zwei Kulturen hin- und hergerissen zu sein?

In Teju Coles neu erschienenem Buch »Jeder Tag gehört dem Dieb« (Hanser Berlin), das bereits 2007 in Nigeria veröffentlicht wurde und jetzt also auch den Weg über die USA nach Deutschland gefunden hat, scheint es genau um solche existentiellen Fragestellungen zu gehen. Der namenlose Protagonist kehrt nach langer Zeit in seine Heimat, nach Lagos, Nigeria, zurück. Doch seine Hoffnungen und Sehnsüchte werden schon bald vom nigerianischen Alltag voller Korruption, Chaos und Generatoren-Geknatter entzaubert.
Kaleidoskopartig breitet sich beim Lesen vor meinen Augen das flirrende Panorama des modernen Lagos aus und lässt – nicht zuletzt auch wegen den beigefügten Photographien, die Teju Cole vor Ort geschossen hat – die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen.

Und daher verwundert es kaum, dass Cole bei seiner Lesung im Literaturhaus vergangenen Donnerstag immer wieder nach seinen Erfahrungen in Lagos gefragt wird. Man setzt gerne den Autor mit dem Erzähler gleich und wittert eine tiefergehende Entfremdung, deren Verarbeitung hier nun literarisch zur Sprache kommt, wie sollte es auch anders sein, wenn man doch längst in Brooklyn zu Hause ist?

Teju Cole signiert nach der Lesung im Literaturhaus München (© Alke Müller-Wendlandt)
Teju Cole signiert nach der Lesung im Literaturhaus München (© Alke Müller-Wendlandt)

Dabei kam alles ganz anders, lässt uns Teju Cole mit einem Grinsen wissen. Eigentlich wollte er damals, als Promotionsstudent der Kunstgeschichte, seine Doktorarbeit schreiben. Und wie das nun mal so ist mit Doktorarbeiten, irgendwann beginnt man alles andere lieber zu machen, erledigt lang Unerledigtes (aber natürlich auch irgendwie nur so halb), drückt sich vor dem Beginn des nächsten Kapitels, schaut mal schnell zu Facebook. Prokrastiniert eben. In Coles Fall war es das Bloggen. 30 Tage, jeweils ein Blogeintrag, mit dem Ziel, am Ende alles wieder offline zu nehmen. Aus dem ursprünglichen Nebenprojekt, das Cole als »performative gesture« geplant hatte, wurde schnell ein Fulltime Job, 10 Stunden täglich saß er an seinem Schreibtisch und bloggte. Als es schließlich darum ging, das Ganze aufgrund der steigenden online Leserschaft doch in eine druckfähige Form zu bringen (deren Endergebnis uns heute in »Jeder Tag gehört dem Dieb« vorliegt), packte Cole jedoch wieder das Editier-Grausen – und er stürzte sich stattdessen in ein neues Projekt, mit dem ihm letztlich der internationale Durchbruch als Autor gelang (nämlich dem Roman »Open City«, Suhrkamp Verlag)…

Obwohl also die stiefmütterlich behandelte Dissertation der eigentliche Grund für Teju Coles literarische Karriere ist, ziehen sich doch auch verschiedene thematische rote Fäden durch seine beiden Bücher, womit wir wieder beim Thema der Heimat angelangt wären. Heimat, das bedeutet nicht nur Ursprung oder der eigene Geburtsort für Cole, der selbst als moderner Vorzeige-Kosmopolit gelten kann.

»Home is where my stuff is. Also, home is if there is a good wifi connection«,

sagt Cole und lacht in die Runde. Aber Heimat ist für ihn auch da, wo man Leute trifft, die mit einem gemeinsame Ideen und Vorstellungen teilen, also in Berlin bei seinem deutschen Verleger oder eben auch in München, an diesem Abend, im Literaturhaus. Wir sollen ihm also bitte dann nachher auch die Tür aufmachen, wenn er davor steht und bei uns zu Hause klingelt.

Teju Cole: »Jeder Tag gehört dem Dieb« (Hanser Berlin, übersetzt von Christine Richter-Nilsson) ISBN 978-3-446-24772-7 Euro 18,90
Teju Cole: »Jeder Tag gehört dem Dieb« (Hanser Berlin, übersetzt von Christine Richter-Nilsson)
ISBN 978-3-446-24772-7
Euro 18,90

Man merkt an diesem Abend, dass Cole nicht nur ein begnadeter Schriftsteller ist, dem wie nebenbei grandiose Zitate einfallen, für deren Übersetzung die Hilfe des gesamten Publikums nötig wird. Nein, auch unterhalten kann er gut, ohne dabei oberflächlich zu wirken. Vielleicht sehen wir die Dinge aber auch immer zu ernst, in Nigeria wurde »Jeder Tag gehört dem Dieb« eher als amüsante Analyse der gegenwärtigen Situation des Landes aufgenommen, während wir schockiert über offene Korruption und Erpressungen den Kopf schütteln.
Und letztlich liegt doch auch die Frage der Zugehörigkeit in der Verantwortung eines jeden einzelnen, meint Cole

»Don’t let them decide to which side you belong to. It’s your own responsibility to which side you want to belong.«

So geht eine inspirierende Lesung zu Ende, die wir alle mit offenen Augen und Ohren verlassen. Und ganz zum Schluss, beim Signieren meines Buches, verrät mir Teju Cole noch, dass seine Doktorarbeit erstmal weiterhin ruht – das nächste Werk ist nämlich schon im Entstehen …

DO 18.6.15
»JEDER TAG GEHÖRT DEM DIEB«
EIN ABEND MIT TEJU COLE & MICHAEL KRANZ
Moderation: Tobias Döring (LMU)


Ayla Amschlinger liest am liebsten während des Frühstücks, nicht selten mit dem ärgerlichen Nebeneffekt, dass der Kaffee dabei kalt wird. Sonst streift sie gerne über Flohmärkte oder plant ihre nächsten Reisen in alle Welt. Bis Ende August 2015 ist sie Praktikantin im Literaturhaus München und schreibt parallel an ihrer Doktorarbeit in Germanistik.