Vera Doppelfeld Preis: Die Shortlist 2020

Cihan Acar »Hawaii« (Hanser Berlin)
Raphaela Edelbauer »Das flüssige Land« (Klett-Cotta)
Marina Frenk »ewig her und gar nicht wahr« (Wagenbach)
Nadine Schneider »Drei Kilometer« (Jung und Jung)
Dana von Suffrin »Otto« (Kiepenheuer & Witsch)

»Die erste Shortlist zeigt eindrucksvoll die Qualität und ästhetische Bandbreite der Romandebüts der aktuellen und der letzten Saison und reflektiert literarische Trends für 2020. Herkunft und Erinnerung, Entwurzelung und das Ankommen in der Gegenwart – das sind die existenziellen Themen, die alle fünf Shortlist-Kandidatinnen und Kandidaten im ersten Jahr des Preises literarisch innovativ und atmosphärisch meisterhaft in Szene setzen – mit starken Bildern und stimmigen Dialogen, mit Witz und Poesie; ob in der Vorstadt von Heilbronn oder mitten in Kreuzberg, ob in München-Trudering, in einem rumänischen Dorf oder in der österreichischen Provinz. Wir freuen uns über das einvernehmliche Votum der Jury und natürlich über die Kooperation generell mit zwei starken Partnern wie der Doppelfeld Stiftung und der BMW Group. Gemeinsam wollen wir herausragende Debüts fördern, die dazu beitragen, unsere Zeit zu verstehen und ihre Vielstimmigkeit als Bereicherung zu sehen.«

JURY-SPRECHERIN TANJA GRAF

 

Cihan Acar »Hawaii« (Hanser Berlin)

Cihan Acar: »Hawaii« (Hanser Berlin)
Cihan Acar: »Hawaii« (Hanser Berlin)

CIHAN ACAR, geboren 1986, studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg und lebt in Heilbronn. Zuletzt erschienen von ihm Bücher über Hip-Hop und über den Istanbuler Fußballclub Galatasaray.

Cihan Acars brisantes Debüt über Heimatlosigkeit und Toleranz in unserer zerrissenen Gesellschaft ist »ein rauschhafter Trip durch Heilbronn, der den Leser sofort in seinen Bann zieht.« (Benedict Wells)

Es sind die heißesten Tage im Jahr, Hundstage, die, so glauben manche, schweres Unheil bringen. Kemal Arslan läuft durch Heilbronn, ein Fußballstar, der nach einem Unfall seine Karriere beenden und von vorn anfangen muss. Unbeteiligt steht er auf einer türkischen Hochzeit herum, geht in ein Striplokal und ins Wettbüro, gerät mitten hinein in eine Straßenschlacht zwischen Rechten und Migranten, trifft seine Exfreundin Sina und besucht seine Eltern, die, wie die meisten Türken der Stadt, in Hawaii wohnen, einem Problembezirk mit heruntergekommenen Hochhäusern und rauem Straßenleben, der rein gar nichts mit dem Urlaubsparadies gemeinsam hat. Cihan Acar erzählt von zwei Tagen und drei Nächten eines jungen Mannes, in denen er alle Stadien von Illusion, Sehnsucht und Einsamkeit durchquert. Ein Buch über all die Heimatlosen, Nachtgestalten und Romantiker, die im Dazwischen leben.

Raphaela Edelbauer »Das flüssige Land« (Klett-Cotta)

Raphaela Edelbauer: »Das flüssige Land« (Klett-Cotta)
Raphaela Edelbauer: »Das flüssige Land« (Klett-Cotta)

RAPHAELA EDELBAUER, geboren 1990 in Wien, wuchs im niederösterreichischen Hinterbrühl auf. Sie studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst, war Jahresstipendiatin des Deutschen Literaturfonds und wurde für ihr Werk »Entdecker. Eine Poetik« mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage 2018 ausgezeichnet. Beim Bachmannpreis in Klagenfurt gewann sie 2018 den Publikumspreis. 2019 wurde ihr der Theodor-Körner-Preis verliehen.

Der Unfalltod ihrer Eltern stellt die Wiener Physikerin Ruth vor ein nahezu unlösbares Paradox. Ihre Eltern haben verfügt, im Ort ihrer Kindheit begraben zu werden, doch Groß-Einland verbirgt sich beharrlich vor den Blicken Fremder. Als Ruth endlich dort eintrifft, macht sie eine erstaunliche Entdeckung. Unter dem Ort erstreckt sich ein riesiger Hohlraum, der das Leben der Bewohner von Groß-Einland auf merkwürdige Weise zu bestimmen scheint. Überall finden sich versteckte Hinweise auf das Loch und seine wechselhafte Historie, doch keiner will darüber sprechen. Nicht einmal, als klar ist, dass die Statik des gesamten Ortes bedroht ist.

Wird das Schweigen von der einflussreichen Gräfin der Gemeinde gesteuert? Und welche Rolle spielt eigentlich Ruths eigene Familiengeschichte? Je stärker sie in die Verwicklungen Groß-Einlands zur Zeit des Nationalsozialismus dringt, desto vehementer bekommt Ruth den Widerstand der Bewohner zu spüren. Doch sie gräbt tiefer und ahnt bald, dass die geheimnisvollen Strukturen im Ort ohne die Geschichte des Loches nicht zu entschlüsseln sind.

Marina Frenk »ewig her und gar nicht wahr« (Wagenbach)

Marina Frenk: »ewig her und gar nicht wahr« (Wagenbach)
Marina Frenk: »ewig her und gar nicht wahr« (Wagenbach)

MARINA FRENK wurde 1986 in Moldawien geboren und lebt seit 1993 in Deutschland. Sie ist Schauspielerin und Musikerin, unter anderem am Schauspiel Köln, am Maxim Gorki Theater und am Schauspielhaus Bochum. 2016 erhielt sie zusammen mit Sibylle Berg den 65. Hörspielpreis der Kriegsblinden für »Und jetzt: die Welt!«. Ihr Hörspiel »Jenseits der Kastanien« wurde mit dem Europäischen CIVIS Radiopreis 2017 ausgezeichnet.

Kann man sich totstellen, um der sicheren Erschießung zu entkommen? Einen Fluch unschädlich machen, indem man die Tür verriegelt? Den Abschied vergessen und Gefühle auf Leinwand bannen? Kira erzählt ihre Familiengeschichte. Eine Geschichte von Aufbrüchen und Verwandlungen, von Krokodilen und Papierdrachen.
Die junge Künstlerin Kira lebt mit Marc und dem gemeinsamen Sohn Karl in Berlin. Sie gibt Malkurse für Kinder, hat lange nicht ausgestellt, lange nichts gemalt – und zweifelt. Ihre Beziehung zu Marc ist sprach- und berührungslos. Ihre leicht verrückte Freundin Nele fragt manches, versteht viel und lacht gern, während Kira glaubt, in die Zukunft zu sehen und die Vergangenheit zu erfinden.
In den neunziger Jahren ist sie mit ihren Eltern aus Moldawien nach Deutschland gezogen, irgendwo angekommen ist aber keiner in ihrer russisch-jüdischen Familie. Kira betrachtet nicht nur  das eigene Leben, mitunter zynisch und distanziert, sondern auch das ihrer Vorfahren, die sie teilweise nur von Fotos kennt. Sie reist nach New York, Israel und Moldawien, versucht, die Geschichten zu begreifen und in ihren großformatigen Bildern zu verarbeiten.
Marina Frenk findet eine frische, bilderreiche und sehr körperliche Sprache. Ihr eindrückliches, raffiniert gebautes Debüt ist ein Buch über Familie und Herkunft, über Eltern- und Kindschaft. Es ist ein heutiger Künstlerinnenroman und vor allem auch der Roman einer Liebe.

Nadine Schneider »Drei Kilometer« (Jung und Jung)

Nadine Schneider: »Drei Kilometer« (Jung und Jung)
Nadine Schneider: »Drei Kilometer« (Jung und Jung)

NADINE SCHNEIDER, geboren 1990 in Nürnberg als Tochter von Auswanderern aus dem rumänischen Banat. Sie lebt in Berlin und arbeitet dort im Theaterbereich. Sie  studierte Musikwissenschaft und Germanistik in Regensburg, Cremona und Berlin. Sie veröffentlichte Kurzgeschichten in Anthologien, war mehrfach Stipendiatin der Bayerischen Akademie des Schreibens und wurde für Auszüge aus ihrem Debütroman beim Literaturpreis Prenzlauer Berg ausgezeichnet.

Eine junge Frau, zwei Männer und ein Leben an der Grenze: Dieses Buch erzählt von einem letzten Sommer, bevor nichts mehr so sein wird, wie es war.
Rumänien 1989: Die Hitze ist drückend, das Getreide steht hoch, sonst würde man bis zur Grenze sehen können. Der Gedanke an Flucht liegt verlockend und quälend nahe, noch weiß niemand, was kommt und was in ein paar Monaten Geschichte sein wird. In einem Dorf im Banat, weit weg von Bukarest, dem Machtzentrum des Ceaușescu-Regimes, erlebt Anna einen Spätsommer von dramatischer und doch stiller Intensität. Sie ist hin- und hergerissen, nicht zuletzt zwischen Hans, ihrem Geliebten, und Misch, dem gemeinsamen Freund. Bei wem will sie bleiben? Mit wem will sie gehen? Und ist Hans tatsächlich ein Spitzel, wie Misch vermutet? Mit diesen Fragen bewegt sich Anna plötzlich gefährlich nahe an der Grenze zwischen Treue und Verrat.
Atmosphärisch dicht und schnörkellos erzählt Nadine Schneider von den persönlichen Verstrickungen in einer Zeit vor dem politischen Umsturz. Und davon, was es braucht, um zu bleiben – oder was es bedeutet, sein Land zu verlassen, für sich und die, die man zurücklässt.

Dana von Suffrin »Otto« (Kiepenheuer & Witsch)

Dana von Suffrin: »Otto« (Kiepenheuer & Witsch)
Dana von Suffrin: »Otto« (Kiepenheuer & Witsch)

DANA VON SUFFIN wurde 1985 in München geboren. Sie studierte Politikwissenschaft, Neuere und Neueste Geschichte und Komparatistik in München, Neapel und Jerusalem. Seit 2009 ist sie Museums- und Stadtführerin in München. 2017 Promotion mit einer Arbeit zur Rolle von Wissenschaft und Ideologie im frühen Zionismus, seitdem Postdoc an der LMU. Sie lebt in München.

Zwei Schwestern – und ein Vater, der mehr als genug ist für eine Familie.
In ihrem Romandebüt erzählt Dana von Suffrin, was es heißt, wenn ein starrköpfiger jüdischer Familienpatriarch zum Pflegefall wird. Und wie schwer es fällt, von einem Menschen Abschied zu nehmen, den man sein ganzes Leben eigentlich loswerden wollte.
Für sein Umfeld war Otto, der pensionierte Ingenieur, schon immer eine Heimsuchung. Aber als er aus dem Krankenhaus zurückkehrt, ist alles noch viel schlimmer. Nach wie vor ist er aufbrausend, manipulativ, distanzlos und von wahnwitzigen Einfällen beseelt – aber jetzt ist er auch noch pflegebedürftig. Seinen erwachsenen Töchtern macht er unmissverständlich klar: Ich verlange, dass ihr für mich da seid. Und zwar immer! Für Timna und Babi beginnt ein Jahr voller unerwarteter Herausforderungen, aber auch der Begegnung mit der eigenen Vergangenheit und Familiengeschichte, die so schräg ist, dass Außenstehende nur den Kopf schütteln können. Klug, liebevoll und mit sehr viel schwarzem Humor erzählt Dana von Suffrin, wie Timna versucht, ihre dysfunktionale Familie zusammenzuhalten, ohne selbst vor die Hunde zu gehen. »Otto« ist Hommage und zugleich eine Abrechnung mit einem Mann, in dessen jüdischer Biografie sämtliche Abgründe des 20. Jahrhunderts aufscheinen.