»Evening-Pages: Mitbringsel«

Texte aus der Schreibwerkstatt mit Doris Dörrie

Unbenannt 4Vom 8. bis zum 12.4.24 motivierte die Autorin und Regisseurin Doris Dörrie (zuletzt »Die Reisgöttin und andere Mitbringsel« // »Die Heldin reist« // »Leben, schreiben, atmen« // alle Diogenes) über 100 interessierte Teilnehmer*innen zum Schreiben.

Es ging in dieser 5teiligen ONLINEWERKSTATT um die »Dinge unseres Lebens« – seien sie mitgebracht, geschenkt, geerbt oder selbst erworben. Denn sie erzählen tatsächlich viel über uns und unser Leben. In der Vorbereitung sollten fünf solcher Dinge ausgesucht und bereitgelegt werden. Um diese herum wuchsen von Tag zu Tag kleine Geschichten. Doris Dörrie gab Schreibimpulse und teilte ihre eigenen Erfahrungen mit den Schreibenden.

Ausgewählte Teilnehmerinnen haben uns ihre Geschichten und »Mitbringsel« zum Nachlesen geschickt.
Vielen Dank dafür!

Christine Bachmann

»ICH ERINNERE MICH AN SASCHA,…«

Ich erinnere mich an Sascha, an den Scharmützelsee und wie er mir später erzählt, ich habe ihn gezwungen mit mir zum Strand zu gehen, FKK, um dort Nackte zu fotografieren. Ich erinnere mich nicht daran, aber an Heidelbeeren, im Wald bücken und die blauen kleinen Perlen von den Zweigen pflücken. Kegeln auf rostiger Kegelbahn. Bungalow. Großeltern. Oma im Bikini. Rostige Badewanne. Fotografieren mit der Beirette, die orangene. Einstellen ob Wolken, Sonne, Sonne mit Wolken, ein Mensch, drei Menschen, Berge. Durchkucken. Die Welt als Rechteck. Sicher sein. Einen Rahmen haben. Links, rechts, oben, unten weglassen, rausschneiden, nur das Rechteck ist noch sichtbar. Erleichterung. Endlich Ruhe, Ordnung, Klarheit. Das Chaos beseitigen. Die Welt im Visier. Klick. Abdrücken. Die Welt, die ausgeschnittene, einpacken, mitnehmen wie ein Souvenir. Klick. Eintüten. 5 mal Strand bitte. Klick. Baum vorm Haus. Klick. Oma lesend im Campingstuhl, im Bikini. Klick. Film aufziehen. Rolle leer. Neuen Film einlegen. Vorsichtig. Das Licht meiden. Aufziehen. Klick. Klick. Zwei leere Bilder machen. Wieder bereit sein für die Jagd. Klick. Ich bin mächtig, kann hier alles mitnehmen, was ich sehen kann. Klick, Freiheit. Sehen dürfen. Die Kamera ist klein, aus Plastik, vorne baumelt am Objektiv die schwarze Schutzkappe. Opa hat viele Kameras. Opa entwickelt meine Filme, die vollgeklickten, im Badezimmer zu Hause, manchmal gibt er sie auch irgendwohin. Ein Zauber. Halte die Fotos in den Händen. Weißgezackter Rand, schwarzweiße Welten. Oma im Bikini lesend im Campingstuhl. Foto mit Störungen. Es war das erste oder letzte im Film. Oma verschwindet hinter weißen Punkten als würde ein Vorhang über sie fallen. Geht er rauf oder runter?

 

Silvia Blume

»DER SILBERNE RING«

Der silberne Ring fühlte sich glatt und geschmeidig an . Er war unverziert und schlicht. Ich liebte ihn sofort .
In einem kleinen Laden in Delhi kaufte ich ihn mir . Er passte hervorragend. Lange Zeit trug ich ihn als ein Symbol für Freundschaft und Verbindlichkeit. Als ich wieder nach Deutschland kam trug ich ihn lange Zeit. Später, viele Jahre später als ich den Ring schon fast in meiner Schmuckschale vergessen glaubte, viel er mir wieder in die Hände . Er ähnelt tatsächlich meinem jetzigen Ehering 20 Jahre später. Auch dieser Ring ist schmal golden allerdings mit einem kleinen Brillanten, schlicht und wunderschön.
Dieser Ring kommt aus Thailand . Mein Mann und ich gaben uns die Ringe am Strand von Koh Samui .
Es war so berührend und bewegend.
Mein Mann ein Norddeutscher ohne Romantik , schwupp hatte ich den Ring am Finger.
Es hat aber auch denMann aus dem hohen Norden sehr berührt .
Es war traumhaft schön .
Die Tragödie begann, als ich ,tatsächlich beim Wäsche machen den Brillianten von meinem Ring verlor.
Er ist jetzt in den weiten von Mutter Erde .
Verzweifelt rief ich meine Freundin an und bat sie um Hilfe .
Sie sagte nur , da muss ein neuer Brilli
her und zwar grösser und stabiler.
Ich war begeistert .
Super !!!!

 

Anita Bosch

»LE LAVANDOU – EINE LIEBESERKLÄRUNG«

Als wir über die Grenze in die Schweiz fuhren, war mir klar, dass ich tatsächlich vergessen hatte, Geld vom Automaten zu ziehen. Brauchte ich dort, wo wir hinfuhren, überhaupt Bargeld? Oder wurde in Frankreich Bargeldlos bezahlt?  Ich sog alles auf was ich sah die Schweiz, so sauber dort war ich auch noch nie. Allein das Fahren auf der Autobahn durch die Schweiz machte mich glücklich. Richtung Frankreich nach Le Lavandou.

Mikael sitzt neben mir und lässt sich von mir chauffieren. Ich war noch nie in Frankreich. Ich hatte Angst. Die Franzosen mögen die Deutschen nicht, und schon gar keine die kein französisch sprechen. Die Reise kann lustig werden. Ob Mikael sich auch Gedanken macht? Wir sind im verflixten siebenten Jahr unserer Beziehung. Es läuft gerade nicht gut zwischen uns. Er ist die Liebe meines Lebens. Aber unsere Welten in denen wir Leben könnten nicht unterschiedlicher sein. Meine Gedanken sind traurig.

Die jüngsten sind wir auch nicht mehr. Ich bin die erste Frau mit der mein Freund Mikael. (er bezeichnet mich immer noch als Freundin, wie ein Teenager, dass finde ich ätzend) zusammengezogen ist. Am Anfang unserer Beziehung als wir frisch verliebt waren und unsere erste gemeinsame Wohnung bezogen dachte ich wir würden Heiraten. Seit dem Umzug an den Ammersee bin ich auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt.

Bei uns auf dem Dorf würde man sagen, er ist ein Einschichtiger. Einer, der übrig geblieben ist, einer, der sich nicht entscheiden wollte oder konnte. Und ich die Geschiedene, die, die einfach Mann und Kinder (die schon sehr erwachsen sind) im Stich gelassen hat. Den Bauernhof, das Holz, die viele Arbeit, natürlich auch die Oma und den Opa. Die jetzt alt sind und die auf ihre Hilfe angewiesen sind. Die war schon immer eigen hat so gar nicht gepasst ins Dorf zum Andreas. Die Leute im Dorf sind so heilig, die müssen herunterschauen, um den Himmel zu sehen, hat sie gesagt. Wie die Oma immer sagte „die Jule geht von Blume zu Blume wie ein Schmetterling“. Fort ist sie, um Karriere in der Großstadt zu machen.

Mein Herz klopft, ich muss aussteigen, um ein Pickerl zu kaufen. Die Verkäuferin in dem Laden lächelt mich freundlich an, ich lächle freundlich zurück. Die schaut so elegant aus edel, wie ich mir eine Schweizerin halt so vorstelle. Irgendwie denke ich mir die Schweizer schauen alle stinkend reich aus. Die Straßen der Schweiz sind sauber, wie geschleckt.

Sie hat nicht gemerkt, dass ich nervös bin, natürlich habe ich ein schlechtes Gewissen.

Sehen einem die Leute eigentlich an, wenn man was Verbotenes, ungeheuerliches tut. Das gute an meiner Erziehung ist (wenn man es, denn überhaupt Erziehung nennen kann so wie ich aufgewachsen bin). Man schert sich weniger. Oder ich bin einfach mutiger als andere Frauen meines Alters und suche mir so manches Schlupfloch.

Mikael sieht nicht gut aus. Hoffentlich hält er durch, blass ist er, schweigsam. Eine Eigenschaft die vollkommen unüblich für ihn ist. Manchmal kann der mich mit seinen lustigen Hubschrauber Geschichten in Grund und Boden quatschen. Da kann ich mich wegwerfen. Ein Künstler ist er, malen tut er, Trump Bilder. Gitarre spielen kann er auch. Ich brings grad mal um eine Blockflöte zu malträtieren. Und jetzt diese Distanz.

Ich bin aufgewühlt. Schlucke meine Tränen runter die mir immer wieder aufsteigen. Weiter auf der Autobahn nach Frankreich. Zwei Snickers und eine Cola von der Tankstelle, um ihn ein bisschen aufzumuntern, für die lange Fahrt die noch vor uns liegt.

 

Eva Friedel

»MEIN NEGLIGÉ«
(Geschrieben am 11.4.24 in 10 Minuten)

20240417 131041Seit ich es habe, ziehe ich es nicht mehr aus. Ich finde es in einer Boutique und es trifft mich wie der Blitz. Liebe auf den ersten Blick. Blumen, ein Traum, ein Blumentraum, Nachthemd und Morgenmantel, ein Hauch von Nichts. Zwei Hemden kaufe ich, zum Wechseln und den Morgenmantel.

Tag und Nacht trage ich es seitdem, will es nicht mehr ausziehen. Manchmal habe ich das Gefühl, ich sei damit verwachsen.

In Ägypten bei Sylvie lasse ich mich damit in den Pool gleiten, früh morgens, wenn die giftige Sonne erst langsam hinter dem Horizont auftaucht, noch im Dunst verschwunden und harmlos.

Es verhüllt meine Verletzlichkeit, die Mauern haben Augen. So schwebe ich in Diva Blue, umgeben von einem Hauch von Blüten.

Dann setze ich mich in die romantische Sitzecke zwischen Sylvies wunderschönen Blumen, die aber nur einen Tag lang blühen. Verletzlichkeit und Schönheit im Blütenmeer.

Mein Negligé begleitet mich seitdem täglich.

Löcher sind darin entstanden, meine Verletzlichkeit ist weniger umhüllt, kommt durch die Löcher.

Ich werde sie flicken, bis neue entstehen. Auch diese werde ich flicken. Ein Leben ohne dieses Blütenmeer ist unvorstellbar.

Im Streit ziehe ich mich zurück, kuschle mich in ein Meer aus Blüten, träume mich in Diva Blue und die Leichtigkeit des Seins aus Blüten.

Mein Liebster brüllt, wirft Schüsseln an die Wand, verschwendet unser Geld und bringt uns in äußere Not. Die Blüten sind dabei und trösten mich.

Immer.

»MEIN ROTER KOFFER«
(am 12. 4. 24 beim Workshop geschrieben)

20240417 131407~2Umgefallen, flach, fertig gepackt, gefallen wie ein gefallenes Tier, blutrot und blutend liegt er da zum Auspacken, mein roter Koffer.

3 Tage langes Packen –  fertig –  15 Minuten vor der Fahrt zum Bahnhof wird es W. schrecklich schlecht –  Druck auf der Brust – kalter Schweiß –  gelbe Gesichtsfarbe – Überfallartiger Durst. Der Gang zur Toilette geht noch –  Anruf beim Notarzt – zurück zum Bett geht es nicht mehr. Verwirrt und grün, zitternd steht er da, der Mann, sonst so stark und sportlich. Plötzlich völlig verletzlich und sich an der Heizung festklammernd, den Blick total sinnlos auf den toten Winkel der Heizung hinter der Badtür gerichtet .

Der Nachbar hilft mir, ihn hinzusetzen. Herzinfarkt – Rollstuhl – Wegfahren zur Klinik. Mein Koffer, rot –  blutrot –  sinnlos gepackt.

Natürlich bleibe ich.

Der Koffer liegend und geschlagen, die Reise nicht angetreten. Die Gurte, gekreuzt über meinem geblümten Frühlingskleid und dem Ajour-Wollschal, vorsichtig hervorschauend. Meine Schwestern im fernen Frankfurt machen Sushi. Ich schreibe.

Mein Herz dankbar – dass ich noch hier bin – dass es rechtzeitig ist – dass der Stent gesetzt werden kann.

Der blutrote Koffer, wild und sinnlos auf meinem Boden, bringt mich vor Erleichterung zum Weinen.

Doris Dörries 5. Tag –  Workshop – Freies Schreiben – ich fühle mich frei!

FORTSETZUNG »MEIN ROTER KOFFER«
(am 13.4.24 geschrieben)

S. hilft, gemeinsam gelingt es uns W.  auf einen Stuhl zu setzen. Daneben steht mein roter Koffer, gepackt.

Es klingelt.

Zwei Sanitäter schließen ein Gerät an. Es blinkt und piepst. Sie sagen, es ist wohl ein Herzinfarkt. Dann rufen sie den Notarzt. Fünf Personen, mit S. und mir sieben in unserem Flur. Es gelingt ihnen nicht, einen Zugang zum Arm zu legen, ich leuchte verzweifelt mit dem Handy abwechselnd auf den linken und den rechten Arm. Er weiß meinen Namen noch, unsere Adresse nicht mehr. Ich fühle mich seltsam getröstet –  wir sind nicht allein – und tröste ihn – alles wird gut –  ganz ruhig – alles wird gut – und glaube es selbst nicht.

Sie tun alles, was sie können, erklären geduldig – mitnehmen – runterrollen mit einem Rollstuhl – vielleicht gleich einen Stent setzen.

Ich laufe hinter dem Rollstuhl her.

Ein Nachbar wünscht alles Gute. Seltsam zerbrechlich sieht er aus,  der sonst so Große, Starke, Sportliche, unbesiegbar sich Glaubende. Sie legen ihn auf eine Bahre und schieben ihn in den Sanitätswagen.

Dann fahren Sie weg.

Ich bleibe zurück, die Wohnung ist seltsam leer.

Oben steht mein gepackter, roter Koffer.

»DER APOTHEKERPRAKTIKANT – EINE LIEBESERKLÄRUNG«

“Normalerweise laufe ich jungen Damen nicht hinterher, aber bei Ihnen mache ich eine Ausnahme!”, ruft er und holt mich ein. Es ist dieser Herbst 1971, als alles noch vor mir liegt. Wir machen Praktika in einer Apotheke in der kleinen Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin. Nicht in derselben Apotheke, jeder in einer anderen. Seine Augen blinken humorvoll und wach. Er kommt vom Bodensee und fährt die Strecke täglich zur Apotheke.

Das Leben ist schön und frei. Täglich haben wir morgens 1 Stunde Unterricht: Chemie, Botanik, Pharmakologie, Physik. Das Leben ist trotzdem ein Spiel. Mein neunzehnter Geburtstag, Party, es sind viele da, auch er und meine Mutter lebt noch. Ich mache Waldorfsalat. Danach putzen wir die schwarzen Striemen vom weißen Marmorboden.

An den Wochenenden sind wir oft im Bregenzerwald beim Skifahren oder feiern mit den anderen PraktikantInnen – einfach so. Schüchterne Küsse im Morgengrauen. Seine Freundin schläft im Matratzenlager oben. Das Leben ist ein Spiel.

Er macht das Vorexamen ein Jahr vor mir und studiert in Tübingen, er sagt, “du bist so kreativ, du gehst kaputt mit Pharmazie. Lehrerin, die geborene Lehrerin.” Mutter stirbt. Ich funktioniere.

Nach dem Vorexamen werde ich Lehrerin. Vater ist enttäuscht. Wir verlieren uns aus den Augen. Andere Freunde, Heirat, Kinder… Als mein älterer Sohn ein Kleinkind ist, finden wir uns wieder bei A.. Ich wickle meinen Sohn auf dem Boden und stille ihn. Jahrelang rote Rosen zum Geburtstag.

Er heiratet Jahre später, dass sie nicht abgeschoben wird – eine Lüge. Sein Vater macht Druck. Es geht schief. Meine Ehe auch, ab und zu sehen wir uns – neuer Mann – neues Glück?

Blumen zum Geburtstag, Besuche.
Es ist immer wieder wie damals, wir sind uns einig: Oma sagte immer: “Heirate, den H.!”, wir lachen. Hätten wir geheiratet, würden wir vielleicht nicht mehr miteinander sprechen!

Blut im Urin. Er will abwarten. Mehr Blut im Urin und auch im Stuhl. Er bekommt lange keinen Arzttermin. Sie wollen eine Niere entfernen. Er sagt “Nein!”, überlegt, ordnet Papiere…
Ich mache mir Sorgen.
Dreiundfünfzig Jahre, nur ein Wimpernschlag im langen Atem der Zeit!

 

Francis Kaufmann

»DIE ZERBROCHENE TEETASSE«

Die zerbrochene Teeschale Foto FrancisKaufmannIn Ama no Hashidate: Ich erinnere mich ganz genau, an den kleinen Teeladen in Ama no Hashidate. Alles was mir geblieben ist, von jenem Ort, an dem die Götter Japan erschaffen haben, an dem Hokusai die Szenen für seine Holzschnitte skizziert hat – alles was mir geblieben ist, sind drei Scherben einer Teetasse, die ich auf der unromantischsten Reise meines Lebens gekauft habe.

Ich kaufe die Teeschale mit Aki, der alten Liebe, die langsam dahinrostet. Im Korb liegt sie unter blauen, jadegrünen und weiß glasierten Tassen. Alle sind sie rund, bis auf eine. Diese eine wähle ich, weil sie nicht rund ist, weil sie Ecken und Kanten hat, Ecken und Kanten, die Aki an mir nicht mag, die ich nicht haben darf. Zu guter Letzt kaufe ich sie, um Aki darin den Tee zu servieren – mit heimlicher Boshaftigkeit – ihm, der Ecken und Kanten verachtet, der nur in der Rundheit Harmonie findet.

Ich wähle diese Tasse, weil sie rötliche Pinselstriche und gelbe Tupfen hat, weil es September, fast Oktober ist und diese Farben irgendwie alles treffen. Am Abend gieße ich hellgrünen Tee in meine kantige Tasse, nehme einen Schluck, schaue aus dem Fenster, im fünften Stock. Da weiß ich es. Es ist Herbst. Ich spreche es aus: »Es ist Herbst!«

Jetzt erinnere ich mich an den Herbst, als mir die Tasse entgleitet, meine liebste Tasse aus Ama no Hashidate – dem Ort, an dem das Traumpaar unter den japanischen Gottheiten das Inselland geboren hat. Alles was mir aus Ama no Hashidate geblieben ist, sind Scherben – die Scherben meiner liebsten Tasse, die Scherben einer alten Liebe, angelangt im Herbst.

Ich erinnere mich an den Herbst, als ich meine Koffer packe, um in den Winter zu laufen, nichts als drei Scherben in der Tasche.

 

Petra Koch

»DER BERLINER-MAUER-STEIN«

Foto Petra KochDer Berliner-Mauer-Stein. Wild. Was genau wild ist, wird sich zeigen. Subjekt Prädikat Objekt lasse ich schon lange weg. Ich will mit diesem Stein der Österreicherin den Garaus machen. Herrlich dämlich, ausmachen. Der Stein, die Österreicherin, Ende. Ein Satz. Ich schmunzle innerlich. Der Stein bringt mich immer wieder zu dir, Amadou. Er sollte mich nach Berlin bringen, zurück zur Wende, zur Politik, zum Umschwung, Umsturz. Ich erinnere mich. Zur Freiheit, zur Selbsterfüllung. Und jetzt will ich damit jemanden umbringen. Auch gut. Angst vor Wörtern. Habe ich die? Glaube nein. Mord, Blut, Totschlag, Wunden, Schmerz, Tod, Ende. Ist nicht schlimm.

Wild sein. Das will ich wohl sein, draußen auch, nicht nur auf dem Papier. Der Stein ist ja schon rot, fällt gar nicht so auf, wenn noch Blut dran kommt. Das ist auch Freiheit. Ich will so Wörter wie »vermutlich« oder »vielleicht« oder »möglicherweise« benutzen. Besser weglassen. Wilder sein. Zweiwort Sätze. Auch nein ist ein Satz. Nein.

Ich liebe Schreiben.

Ich will mit dem Stein nach Nordirland an die Nordseeküste und schreiben. Das ist ein Ziel, an das mich der Stein bringen könnte.

Fokussieren. Auf den wilden Stein. Oder Amadou umbringen? Virtuell? Ihn umbringen und dann beerdigen ein für allemal? Au, Abschiedsschmerz, jetzt schon. Loslassen, Trauer, Trennung, Abschied, nicht mehr dran denken. Oder anders dran denken. Umdenken. Neue Perspektive.

Ich will das vorlesen. Traue mich nicht. Finde mich extrem wild. Reicht ja, wenn ich das finde.

 

Elisabeth Pein

»DIE KLEINE BLAU-WEISSE BROSCHE«

Da liegt ein altes Foto einer kleinen blau-weißen Brosche auf dem Tischtuch mit dem gelben Zitronenmuster. Ich suche gerade Fotos für eine Ausstellung zusammen, da erscheint es plötzlich vor mir. Das Foto hat gelitten, hat einen grauen Fleck am oberen Rand und die Brosche strahlt etwas Vergängliches aus.
Ich erinnere mich, ich habe sie in einem kleinen Laden in Ischl gefunden. Als sie da lag, in dieser winzigen Auslage, in dem etwas heruntergekommen Laden, konnte ich meinen Blick nicht mehr von ihr abwenden, sie erinnert mich an ein Foto von dir, das du mir geschickt hast, vor vielen Jahren, nach dem ich vor Eifersucht raste als die kleine Kunststudentin deren Professor du warst, dich Tag und Nacht verfolgt hat und versuchte dich zu umgarnen.

Wie sich Joy auf den Fotos windet, um ihre schöne Gestalt ins rechte Licht zu setzen, wenn sie in ihre Handykamera lächelt, um dir aus allen Ländern der Welt Selfies zu schicken, um dich als ihren Meister zu preisen. Fünfzehn Jahre unterrichtest du Malerei und noch nie hat sich jemand so benommen.
Für dich ist das alles völlig harmlos. Ich spüre bei jeder ihrer Botschaften an dich, bevorzugter Weise auf Instagram aber auch als Messages auf deinem Handy, die blanke Wut in mir aufsteigen. Bei jedem akustischen Signal der Ankunft einer SMS, röten sich meine Wangen und mein Herz, das bis zum Hals klopft, beginnt zu rasen. Ich schreie dich an: »Das muss aufhören, hörst du!«
Du bist betroffen, aber versuchst gar nicht dich zu verteidigen, was mich noch mehr empört. In meiner Fantasie sehe ich euch überall zusammen.
Später schickst du mir das Foto eines blauen Enzians, der einsam unter einer Tanne auf einer Bergwiese steht, er verkörpert für dich deine Treue zu mir und Du versicherst mir, dass du mich aufrichtig liebst und sprichst von Verlobung.
Ich möchte bei unserem Fest, das einfach sein soll und ohne Gäste, diese Brosche tragen als Symbol deiner Treue, ganz nah an meinem Körper.
In wenigen Tagen ist es so weit. Jetzt drehe ich aber noch versonnen die Brosche in meiner rechten Hand, taste über den Enzian, der reliefartig herausragt. Er ist  scharfkantig, zerkratzt mir die Haut. Blut tropft auf den Tisch, Herzblut, und färbt das helle Holz des Tisches rot.
Sie greift sich so billig an, diese Brosche, täuscht etwas vor was sie nicht ist.
»Mach dich nicht so wichtig, du kleines schlampiges Schmutzstück oder Schmuckstück.« Jähzorn kriecht wieder in mir hoch, sie erinnert mich eben an Anastasia, diese verdammte Brosche, und diese verdammte kleine Schlampe. Unsere Verlobung findet bei dir in deinem mit Laubbögen und verwunschenen Skulpturen, wild verwucherten Garten statt. Wir sitzen auf einer kleinen Holzbank neben dem kleinen Teich. Das Schiff rauscht leise als würde es uns etwas zuflüstern, eine Biene sonnt sich auf eine einer kleinen gelben Blume und summt wohlig.
Dieses Wohlgefühl, das in der lauen Luft liegt, schwappt auf mich über. Zum Teufel mit alle Kunststudentinnen der Welt, mögen sie Joy oder anders heißen, wenn du mich in den Arm nimmst und küsst, mir den Ring an den Finger steckst, sind sie alle vergessen.
Wir schlendern zum kleinen Teich und ich beuge mich über die glitzernde dunkle Oberfläche um mein Spiegelbild zu betrachten, da öffnet sich der Verschluss der Enzianbrosche, sie fällt ins Wasser und sinkt langsam zu Boden.

 

Astrid Schewe

»MEIN PERLENKROKODIL«

Es hat einen dunkelgrünen Rücken und einen weißen Bauch, die kurzen Beine weggestreckt, die Klauen drei kleine Perlen in Lila oder Aubergine. Es ist winzig, keine zehn Zentimeter lang. Was mich stört – was nicht sein sollte, denn es ist selbstgemacht – ist eine Reihe durchsichtige Perlen auf der Schnauze. Die gehören da nicht hin.

Astrid Schewe PXL 20240414 090839094Ich habe es vor gut 30 Jahren geschenkt bekommen. Ob ich mich bedankt habe? Weiß ich nicht. Ob ich gesagt habe, dass eine Reihe falsch ist? Ich befürchte es. Aber es bleibt, es ist meins. Es taucht auf, wie Krokodile auftauchen. Aus der Tiefe, getarnt im Wasser, im Schlamm kann man manchmal ein Auge sehen.

Das Krokodil ist wieder aufgetaucht und sonnt sich mit dem Bauch nach oben. Eine zarte, glatte Fläche. Ebenmäßig und so weiß. Wäre es nicht aus Glasperlen gestickt, müsste es Sonnenschutz auftragen. Es würde gleißend die Sonne reflektieren. Alle am Strand gehen auf Abstand, setzen sich schnell Sonnenbrillen auf. Nur die tiefgegerbten Sonnenanbeter-Omis bleiben ungerührt, reichen einfach das Tiroler Nussöl weiter. Kroko braucht kein Tiroler Nussöl, Kroko bekommt keinen Sonnenbrand.

Es wurde von einem braven, stillen Teenager gemacht. Perlenweben, Seidenmalerei, Serviettentechnik, Goldschmieden und ein Tiffany-Kurs. Sie kann alles. Das Krokodil fand sie vielleicht gar nicht so besonders, es gibt in meinem Jugendzimmer sogar ein zweites, ein besseres. Aber das kleine dunkelgrüne mit dem Schönheitsfehler ist bei mir. So winzig, reine Fummelarbeit. Bis heute baut sie kleine Sachen für mich: Origami, ein handgenähtes Täschchen. Sie kann einfach alles.

 

Silvia Schmidt

»ICH ERINNERE MICH DARAN…«

Foto Silvia SchmidtIch erinnere mich daran, dass der kleine Glücksbote im Zuge unseres Richtfestes zu uns kam. Oder zu unserer Tochter – so genau weiß ich das gar nicht mehr. Jedenfalls hat sie ihn hier stehen lassen und bei ihrem Auszug nicht für sich eingefordert. Vielleicht hat sie keine Bindung aufbauen können zu diesem göttlichen Wesen, das so gar nicht göttlich aussieht. Eher knuffig. Mit ausgestreckten Ärmchen, einer großen Knollennase und einem einigermaßen dümmlichen Blick. Nachtblauer, glänzender Umhang – alles aus Keramik. Geschenkt hat ihn uns der Immobilienmakler, der uns (letztlich) durch seine engen Beziehungen zu einer Bank unser Haus, in dem wir jetzt über 20 Jahre leben und in dem unsere drei Kinder großgeworden sind bzw. noch groß werden, erst ermöglicht hat. Wir litten damals eigentlich unter akutem Geldmangel. Teilweise so stark, dass ich keinen Euro fürs Brotkaufen hatte … Aber das ist schon eine andere Geschichte. Eigentlich geht es um das Keramikwesen, das uns (oder unserer Tochter) der besagte Makler beim Richtfest als Schutzengel überreichte. Vielleicht hätte er ihn dringender gebraucht als wir, er ist tatsächlich kurz nach unserem Einzug verstorben. Was mich dazu bringt, zu überlegen, ob Glück und ein langes Leben Schicksal sind und Schutzengel-(Gott-)gewollt oder einfach nur purer Zufall. Ich bin gar nicht religiös. Glaube ich jedenfalls. Aber den Gedanken, dass unser Schicksal eben doch irgendwie vorbestimmt ist, empfinde ich als etwas sehr Tröstliches. Vielleicht auch das Leben nach dem Tod. Ist es dann noch »Leben«? Eine andere Bewusstseinsebene, sphärisch, leuchtend, kraftvoll paradiesisch – mit drei Monden am Horizont eines Strandes mit zuckerweißem Sand und geheimnisbeleuchteter, strahlender Helligkeit trotz dunkelblauem Sternen-Nachthimmel, so blau wie der Umhang des Keramikengels. Eine wundervolle Vorstellung …

 

Ute Schönfelder

»ICH SITZE AM SCHREIBTISCH…«

Ich sitze am Schreibtisch, neben mir eine Tasse frischgezapfter Kaffee. Die Tasse ist beige und von einem regelmäßigen Muster aus roten Herzen bedeckt. Ihre Form ist seltsam gebogen, als wäre der noch weiche Ton in der Sonne auf eine Seite gerutscht. Meine Schwester Iris hat mir diese Tasse von vielen Jahren aus Amsterdam mitgebracht.

Tasse Ute SchönfelderDer Kaffee hat eine schöne Crema und duftet, wie Kaffee duften muss. Nicht so intensiv wie Espresso. Doch kräftiger und aromatischer als langweiliger Filterkaffee. Obwohl: Ich erinnere mich jetzt an den intensiven Geruch von Filterkaffee, den es früher bei Oma und Opa gab. Den aus der leuchten orangenen Kaffeemaschine, eine »Krups«, ein Gerät »aus dem Westen«. Schon dieser Umstand macht sie zu etwas Besonderem. Besonders ist die Maschine auch, weil sie nur zu besonderen Anlässen in Betrieb genommen wird. Wenn sich Besuch angekündigt hat. Normalerweise trinken Oma und Opa Malzkaffee, genau wie wir Kinder. Der Malzkaffee steht den ganzen Tag über in einer Emaillekanne auf dem Herd, der morgens mit Holz und Kohle befeuert wird. Er riecht eher dumpf und muffig.

Die Kaffeemaschine für besondere Anlässe steht für gewöhnlich abgedeckt mit einem karierten Küchenhandtuch in der Speisekammer und wartet auf den nächsten Einsatz. Wird sie dann wieder in Betrieb genommen, riecht es im ganzen Haus.

Ich selbst trinke Kaffee seit der Oberstufe in der Schule. In den großen Pausen gehört es unter den Schülern, die etwas auf sich halten, zum guten Ton, das Mittagessen zu schwänzen und stattdessen ins »Café Schade« zu gehen – was natürlich ausdrücklich untersagt ist. Das Café ist dunkel, dunkel getäfelte Wände, dunkle Holztische und Stühle. Man betritt das Café durch einen Verkaufsraum mit einer Glasvitrine, darin Kuchen und Torte. Ich erinnere mich an und schmecke direkt Apfelmuskuchen mit Zuckerglasur und Rumschnitte. Und Kaffee. Viel davon. Schwarz. Wir sitzen in den Pausen und trinken Kaffee und rauchen (ich nicht) und diskutieren. Über Freiheit, Kunst, das Leben, von dem wir doch noch gar keine Ahnung haben.

Anette Wanner

»KRETA«

Anette Wanner Kermeseichel 20240412 192338Kreta. Ich erinnere mich an den Duft der Pinienhaine. Der Wind streichelt meine Haut. Meine Haare fliegen wirr umher. Wo bist du? Knossos. Wir wandern durch die Paläste. Gärten. Ich kann mich nicht sattsehen. Der Lilienprinz. Blumen. Ornamente. Farben. Ocker. Ziegelrot. Blau. Auf dem sandigen Boden entdecke ich eine Eichel. Darf ich sie mitnehmen? Ich lege dich in meine Hand. Wenn ich dich betrachte, erschrecke ich. Du bist groß, so viel größer als die Eicheln, die ich von meinen Wäldern kenne. Meine Finger streichen über deine glatte, wie zu Holz gewordenen Schale. Lackiertes Holz. Rillen. Wie Fingernägel. Fingernägel der Eiche. Ich schüttle dich. Was für eine Frucht birgst du in dir? Du heißt Kermeseichel. Plötzlich öffnet sich deine Schale einen Spalt weit. Licht der Nachmittagssonne strömt hervor. Wir wandern zu einem Kloster. Schluchten. Ein Hirte ruft seine Ziegen. Seine Stimme trifft mich. Eine Stimme, wie ich sie noch nie gehört habe, und doch scheint mir seine Sprache vertraut. Die Stimme des Hirten. Jedes einzelne Schaf und jede einzelne Ziege kennt er, ruft er beim Namen, und doch wird er das eine oder andere Tier schlachten. Deine Schale öffnet sich. Der Wind des Meeres streicht über unsere Haut. Rauschen. Die Sonne verabschiedet sich am Horizont. Mit einem Mal ist es dunkel. Am Nachthimmel funkeln die Sterne. Im Osten zieht die Mondsichel auf. Ich ziehe meine Stola fester um die Schultern. Wir schauen zum Himmel und flüstern Namen der Sterne. Anrufung der Göttin des Mondes.  Plötzlich schrecke ich auf.

»Wo bist du?« fragst du. Du hast meine Hand genommen. Ich öffne die Augen. Du lächelst.

»Ich bin da, Lieber«, und lege meinen Kopf in deine Hand.

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