»KULTUR IST DIE SEELE DER GESELLSCHAFT«

Ein Abend mit Rolando Villazòn im Studio Salvatorplatz

Dreieinhalb Monate Lockdown, dreieinhalb Monate keine Veranstaltungen im Literaturhaus München – und dann zur Wiederöffnung des großen Saals am 1. Juli eine Lesung mit Rolando Villazòn: Das ist eine Beschleunigung von Null auf Hundert in wenigen Sekunden.

Das STUDIO SALVATORPLATZ im dritten Stock des Literaturhauses stand bereit. Jo Kieker und seine Kolleg*innen haben nicht nur ihr Equipment, sondern ihr ganzes Können und Wissen mitgebracht: Von der gigantischen LED-Wand über mehrere Kameras bis hin zum Ton, der nicht nur im Saal selbst, sondern auch im Stream funktionieren musste. Die Bilder und Filme, die die Stiftung Mozarteum uns zur Verfügung stellte, wurden noch einmal in Form gebracht, der Saal akribisch bestuhlt. Eineinhalb Meter Abstand zwischen den Sitzen, dazu die neuen Bedingungen durch den Stream: Die Kameras brauchen freie Sicht! Kann da noch ein Stuhl stehen? Lieber Standmikro oder Headset? Werden die Zuschauer*innen zuhause auf ihre Kosten kommen?

Lichtprobe im Studio Salvatorplatz // Hintergundbild © Tourismus Salzburg

WIE EINE OPER VON MOZART

Und dann kam er: Rolando Villazòn, unter dem Arm seinen neuen Roman »Amadeus auf dem Fahrrad« (Rowohlt Verlag), im knallgelben Mozart-T-Shirt mit rotem Schal, vorfreudig und zugleich konzentriert, dankbar für die tolle Kulisse, den schönen Saal. Schon einmal las der berühmte mexikanische Tenor im Literaturhaus – das war im Jahr 2017, noch weit vor Corona – und auch damals las Stefan Wilkening die Textpassagen. Das Wiedersehen der beiden: ein Wiedersehen unter Freunden – allein: wie umarmt man sich in Corona-Zeiten?

Noch eine schnelle Ton-Probe im Studio, dann ging es für Rolando gleich weiter auf die (fast geheime) Dachterrasse des Literaturhauses. Ein Kamera-Team des ZDF wartete schon, man wollte ein Interview für die Sendung Leute heute drehen, da passte die grandiose Kulisse natürlich perfekt. Gigantische Wolkenberge rollten über München, der Himmel holte das große Orchester raus, es wetterleuchtete, als stünde man auf großer Bühne. Und so breitete der Star-Tenor die Arme aus, als wolle er sie alle umfangen: die Wolken und die Türme von Salvatorkirche, Theatinerkirche und Frauendom, die Oper, das Maximilianeum, das Rathaus und überhaupt die ganze Stadt:

»Ah… dramatico! Das ist ja wie eine Oper von Mozart!«

Großes Wolken-Drama auf der Dachterrasse des Literaturhauses! © Marion Bösker von Paucker

Und dann ging es los im STUDIO SALVATORPLATZ: Literaturhaus-Chefin Tanja Graf begrüßte das Publikum im Saal und an den Bildschirmen daheim: Es haben sich immerhin Fans aus München, Weilheim, Putzbrunn, Bonn, Hannover, Salzburg, Budapest und anderen Orten zugeschaltet! Echtes TV-Gefühl zur Primetime, das Literaturhaus München sendet ab sofort weltweit! Zuerst ein paar Takte »Le Nozze di Figaro«, dann ein kurzer Film-Einspieler und dann kam er leibhaftig auf die Bühne: der strahlende Autor (oder doch eher Tenor?), der den Zuschauer*innen sofort das Gefühl vermittelte:

»Ihr seid bei einer großartigen Premiere dabei! Lasst uns diesen Abend gemeinsam genießen!«

KULTUR DARF NICHT UMSONST SEIN!

Rolando Villazòn: ein Energie-Bündel! Er ist nicht nur einer der wichtigsten Mozart-Interpreten weltweit, sondern außerdem Intendant der Mozartwoche Salzburg, über die er mit Begeisterung sprach (»Eine wunderbare Verantwortung und ein grandioses Team!«), dazu vielsprachiger Kosmopolit und leidenschaftlicher Vielleser. Der »Steppenwolf« (den er als Jugendlicher las, weil er dachte, es sei ein Buch über Tiere…) begleite ihn noch immer, so Villazòn. Boris Vian habe den Namen für seinen aktuellen Romanhelden geliefert. Der Vian aus dem Buch wiederum kommt seiner Angebeteten in einem Gespräch näher, in dem es um Artaud, Kafka und Rimbaud geht – natürlich kein Zufall, Rolando Villazòn zitiert mit Freude und punktgenau die klassischen Texte. Aktuell lese er Robert Musil, und überhaupt: die Literatur sei Grundlage für alles, für die Kultur in all ihren Formen. Im Lockdown habe es so viel davon digital und umsonst gegeben, das sei eine kurze Zeit auch ganz in Ordnung gewesen, aber jetzt?

»Bekommen Sie Ihren Kaffee gratis? Oder ein Hotelzimmer? Oder irgendetwas anderes?«

Große Augen, dramatische Gesten!

»Nein! Und auch Kultur darf nicht gratis sein, Kultur ist nicht umsonst! So viele Menschen arbeiten in der Kultur, an der Oper, im Literaturhaus, an so vielen Orten! Kein Stream darf gratis sein!«

Was für eine wunderbare Bestätigung für unsere Arbeit.

Große Oper: Rolando Villazòn! © Catherina Hess

Was Realität sei in seinem aktuellen Roman und was Fiktion, fragte die Klassik-Expertin Dorothea Hußlein, die souverän durch den Abend führte. Der Roman enthalte beides, so Villazòn, das Autobiografische und das Erfundene. Die Liebe zur Kunst und zur Musik, zur Stadt Salzburg, zu Mozart, all das zum Beispiel empfinde er ganz genauso wie sein Romanheld. Und das Erfundene? Das sei letztendlich auch nur eine andere Form von Wahrheit.

Es gibt sogar einige reale Personen im Roman, so wie Cecilia Bartoli, der Villazòn ein hinreißendes literarisches Denkmal setzt. Ein wunderbarer Mensch sei sie, »so voller Licht und Leben«, und wer wissen wolle, wie man Wespen gewaltfrei abwehrt, der möge die Bartoli fragen, die wisse Bescheid [oder Villazòns Buch lesen, Anmerkung der Redaktion].  Immer wieder große Lacher bei den Textpassagen, die Stefan Wilkening mit Hingabe las – hier begegneten sich erneut zwei geniale Clowns auf Augenhöhe: der Autor und sein Interpret.

Stefan Wilkening – großartiger Interpret von Villazòns Literatur! © Catherina Hess

MEHR MANEGENDAMPF!

Die Zuschauer – im Saal und an den Bildschirmen gleichermaßen – erlebten eine heitere Radltour durch das Mozart-beseelte Salzburg, ein Fest der Musik und der Literatur und ein flammendes Plädoyer für lebendige Kultur von einem empathischen, klugen Rolando Villazòn. Er signierte sogar – mit gebotenem Abstand zwar, aber mit derselben Hingabe, mit der er vor Tausenden Menschen Mozart interpretieren würde.

In den Tagen nach dieser ersten »Studio-Lesung« erreichten uns Zuschriften von Stream-Zuschauer*innen, die uns für die perfekte Qualität der Übertragung dankten und für die Möglichkeit, trotz Corona wieder teilhaben zu können am literarischen und kulturellen Leben. Sicher: Nichts ersetzt das Live-Erlebnis, das Dabeisein, den Manegendampf. Doch dass uns Corona nicht lahmlegen wird, dass es weiterhin AUTOREN LIVE geben wird im Literaturhaus München, dass wir an die heilende Kraft der Kunst, der Musik und der Literatur glauben – das haben wir zeigen können. Zusammen mit einem wirklich grandiosen Team.

»Bravi tutti!«

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