Es passiert nicht viel, aber das wird in 136 Varianten erzählt: vom Sonett zum Haiku, vom Verhör zur Matheaufgabe, mit englischen, italienischen oder bayrischem Akzent, mal zögernd, mal ordinär, mal schwülstig, mal botanisch – oder gar zu Buchstabenclustern zerlegt. Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel stellten ihre Neuübersetzung am Donnerstag, 14. Juli 2016 im Literaturhaus vor und zeigten die »Stilübungen« (Suhrkamp Verlag 2016) als einen respektlosen, übermütigen Akt der Selbstbehauptung, begonnen in den totalitären Zeiten der 40er Jahre und von Queneau bis in die 70er Jahre fortgeschrieben, fortgespielt.
In dieses Spiel schaltete sich auch das Publikum des Abends ein. Mit völlig neuen Fassungen der berühmten Szene.
Der erste Text des Buches – wie ihn Raymond Queneau schrieb:
»NOTIERT«
Im S, zur Stoßzeit. Ein Typ, ungefähr sechsundzwanzig, weicher Hut mit Kordel statt Band, zu langer Hals, als hätte jemand daran gezogen. Leute steigen aus. Besagter Typ regt sich über einen der Nebenstehenden auf. Der remple ihn jedes Mal an, wenn einer vorbeiwolle, beschwert er sich. Weinerlicher Ton, der aggressiv klingen soll. Er sieht einen freien Platz, springt hin.
Zwei Stunden später sehe ich ihn auf der Cour de Rome vor der Gare Saint-Lazare. Er steht mit einem Freund da, der zu ihm sagt: »Du solltest dir einen zusätzlichen Knopf an den Mantel nähen lassen.« Er zeigt ihm wo (am Ausschnitt) und warum.
Nach kurzen Vorgaben von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, kollektiv, auf Zuruf aus dem Publikum gibt es seit Donnerstag zwei neue Fassungen:
»MAXIMEN«
ABSATZ 1: Mittags, Bus, voll, heiß
Wer mittags im S-Bus sitzt, soll sich nicht wundern, wenn er schwitzt.
Der frühe Vogel fährt im Bus.
Steig mittags nie in einen vollen Bus, es könnte heiß werden.
Du sollst den Tag nicht vor dem Abend verwünschen.
Ein voller Bus ist mittags heiß.
Ein voller Bus studiert nicht gern.
ABSATZ 2: Junger Mann, langer Hals, auffälliger Hut (Tresse statt Band)
Du kriegst mal wieder den Hals nicht kurz.
Wer lang ist, soll auch Hut tragen.
Auf einem langen Hals sitzt meist ein auffälliger Hut.
Je länger der Hals, desto tresser der Hut.
Wer einen langen Hals hat, wird den Hut nicht sinken lassen.
ABSATZ 3. Protest des jungen Mannes wegen Gerempel (wenn Leute vorbeiwollen)
Schleich di.
Kesse Tresse, freche Fresse.
Wenn einer dich anrempelt, tritt ihm auf den anderen Fuß.
Remple nie einen jungen Mann an, es könnte dein Nachbar sein.
Höflichkeit ist eine Zier, doch raus kommt man eher ohne ihr.
Ein Fußtritt kommt selten allein
ABSATZ 4: Junger Mann (hört auf zu streiten) setzt sich auf freien Platz
Schleich di.
Kesse Tresse, freche Fresse.
Wenn einer dich anrempelt, tritt ihm auf den anderen Fuß.
Remple nie einen jungen Mann an, es könnte dein Nachbar sein.
Höflichkeit ist eine Zier, doch raus kommt man eher ohne ihr.
Ein Fußtritt kommt selten allein
ABSATZ 5: Später am Tag, Gare Saint-Lazare, derselbe junge Mann
Gehe nie nachmittags zur Gare Saint-Lazare, dort lauern Wiedergänger.
Geh lieber zum Basar als zum Lazare.
Man bahnhoft sich immer zweimal.
Sankt Lazarus hilft gare bei Kopfweh
ABSATZ 6: Gespräch mit einem (eleganten) Bekannten über seinen Mantel (-Knopf)
Ein K!nopf, ein K!nopf, ein Mantelk!nopf, das ist ein K!nopf, der fehlt.
Oben hui, unten pfui, so kleidet sich der Mann von heut.
Ein Knopf macht noch keinen Mantel.
»KLEINANZEIGEN«
Suche Mitrempler im Autobus S zur Gare Saint-Lazare.
Biete Knopfversetzung. Biete einen langen Hals und Hut ohne Kordel, suche einen freien Platz.
Plastische Operationen, insbesondere Halsverkürzungen. Alle Kassen.
Suche freien Platz neben Hutfetischisten.
Rikschataximitfahrgelegenheit – wenn mittags der Bus voll ist!
Busfahrschein rempelhalber in gute Hände abzugeben.
Knopfgeflüster am Gare Saint-Lazare.
Wer am Gare Saint Lazare meinen obersten Mantelknopf findet, möge ihn dem Rempler hinter m ir auf den Mund nähen.
Verkaufe alten Linienbus, frei gemacht, leichte Rempelspuren, wegen Überhitzung umständehalber für einen Knopf abzugeben.
MACHEN SIE MIT, SCHREIBEN SIE WEITER?
Weitere Vorgaben der beiden Übersetzer für Publikum & Mitspieler wären:
- Rätsel
- Mysteriös
- Werbung
- Juristische Eloquenz
- Ellipsen
- Stolz
- Handlesen
1 Kommentare zu “Raymond Queneau: »Stilübungen«”
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