Mi 9.12.20 // 20 Uhr // Stream

Der innere Stammtisch. Ein politisches Tagebuch

Lesung mit Ijoma Mangold

Moderation: Marie Schmidt (Süddeutsche Zeitung)

»Und dies Mit-sich-selbst-Sprechen ist ja im Grunde das Denken.«

Hannah Arendt

Ijoma Mangold führt ein politisches Tagebuch und notiert darin die Ereignisse unserer Gegenwart. Er beschreibt, was er auf der Weihnachtsfeier der ZEIT und am Rande der Berlinale erlebt, dass sein Sportlehrer sich nie angeschnallt hat und warum Greta ihn triggert. Im Januar erklärt Helena, eine russlanddeutsche Bekannte, ihm ihren Feminismus, im Februar denkt er über das Wahlergebnis in Hamburg nach, im März stellt er fest, dass der »Decamerone« bei Dussmann ausverkauft ist. Wegen Corona. Verwundert blickt er auf die, denen einerseits »Tugendterror« oder »Multikulti-Romantik«, andererseits »Agism« oder »Faschismus« leicht von den Lippen gehen. Deutlich wird bei seinen Begegnungen, dass die Basis, auf der wir jeden Tag Urteile fällen und Entscheidungen treffen, schmal und schwankend ist. Und doch ist sie alles, was wir haben.
Die alte Eindeutigkeit ist aus der Politik verschwunden. Sie wurde ersetzt durch Reflexe und Schnappatmung, durch Wut und Widersprüchlichkeit. Doch gerade dieses Unreflektierte, die Affekte, der Stammtisch, der permanent nur für uns selbst in uns zu hören ist, ist das, so Mangold, was das Politische im Tiefsten ausmacht. Wie wir zu Meinungen kommen, wie wir es uns gemütlich einrichten mit ihnen und wie wir sie im besten Fall auch mal wieder loswerden – darum geht es in diesem Buch der Selbstbeobachtung. »Der innere Stammtisch« (Rowohlt)  ist ein Text der Zeitdiagnostik – eine Darstellung des politischen Gegenwartstheaters durch einen aufmerksamen Insider und gleichzeitig eine politische Anthropologie.

Sonntag, der 6. Oktober
Fluctuat nec mergitur. Meine Sympathie für den alten Leitspruch der Stadt Paris, die in ihrem Wappen ein Segelschiff führt. «Sie schwankt, doch geht nicht unter»: Das Motto ist nicht triumphalistisch, es hat ein feines Gespür für den wankenden Boden, auf dem wir stehen. Sich unter diesen Bedingungen in der Balance zu halten ist schon aller Ehren wert. Heute stöhnt man, wie polarisiert die Gesellschaft sei und dass diese Spaltung überwunden werden müsse, doch es ist schon ein Erfolg, wenn wir schwanken, aber nicht untergehen.

Ijoma Mangold »Der innere Stammtisch«