Hier sitzt Butterjim, eine kleine viereckige Comicfigur, die die österreichische Autorin Puneh Ansari auf Facebook kreiert hat, im Saal des Literaturhauses (Internet Forever <3) in München und horcht gespannt auf dem mittleren Stuhl (siehe kleine, baumelnde Füße) den Diskussionen und Vorträgen auf dem Podium. Dazu die Sprechblase: »Es gibt k1 WLAN auf dieser Welt«.
Zu unserer Netztagung SCREENSHOTS. LITERATUR IM NETZ am 6. und 7. Dezember 2017 sind außer PUNEH ANSARI noch viele andere Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Himmelsrichtungen eingeflogen. Aus Frankfurt, Berlin, Köln, Hamburg, Leipzig, nochmal aus Wien kamen die online Schreibenden angereist. Mit ihnen haben wir diskutiert, Kaffee getrunken, getwittert, Workshops veranstaltet und über das Internet nachgedacht.
Drei Themenblöcke standen dabei im Mittelpunkt unserer Tagung:
1. Was für neue Formen, besonders KLEINE FORMEN, entstehen derzeit im Netz?
2. Wie verhandeln die Autor*innen ihr neues AUTOBIOGRAPHISCHES SCHREIBEN, das in Sozialen Netzwerken sofort veröffentlicht wird und wie ein Online-Tagebuch stets mitläuft und ihren Alltag mitgestaltet?
3. Und, schließlich, wie verhält sich das MITSCHREIBEN DER GEGENWART zu unserem Verständnis von Zeitgenossenschaft? Welchen Begriff von Gegenwart haben wir?
Die Tagung beginnt am Mittwochabend mit dem Anfang und dem Ende zugleich: mit dem Urknall und dem Tod, der technischen Evolution und dem Sterben im Netz. Jan Kuhlbrodt liest aus seinem Essay »Das Elster-Experiment« (mikrotext), in dem er die Schöpfungsgeschichte in Blog-Kommentaren zur Diskussion stellt und das Entstehen des World Wide Web 1989 im CERN anspricht – damit bringt er den Urknall des realen und virtuellen Universums zusammen. Rick Reuther zeigt am selben Abend zu Beginn seiner Performance ein kurzes Video, in dem die im letzten Jahr verstorbene Wiener Sprachkünstlerin Ianina Ilitcheva ein Lied von Andrea Bocelli summt, mit dem Handy aufgenommen, kurz vor ihrem Tod. Ihr Buch @blutundkaffee ist jetzt posthum bei Frohmann erschienen, herausgegeben von Reuther. Gespenstig, und zugleich äußerst lebendig, wirkt ihre Stimme beim Gesang, wie auch in ihren Texten:
»Baby, irgendwo müssen wir anfangen.
Baby, halt mich jetzt, ganz ganz fest, denn ich habe eine
Handgranate verschluckt!!
Baby, bitte glaub mir alles, was ich erzähle.
Baby, gib mir Namen von Teilen kleiner getöteter Tiere.
Baby, ich bin all das, was der Arzt dir verboten hat«.
Ianina Ilitcheva
Der Höhepunkt der Performance am Abend ist der Moment, man mag es magisch nennen, in dem alle die Person einen Stuhl weiter rechts auf dem Handy anrufen sollen, während die sonst stumm geschaltenen Handys plötzlich auf „laut“ gestellt werden: der normalerweise unterschwellig und unhörbar mitlaufende Livestream des Erlebens, der auf unseren kleinen und großen Geräten auf dem Tisch und in der Tasche ständig mitläuft, wird dabei plötzlich sichtbar, wird hörbar…
Am Donnerstag geht es vormittags weiter mit dem Nachdenken über kleine Formen, JAN KUHLBRDT spricht über die reale Gegenwart des Internets in Bezug auf die neuen Formen, er liest aus seinem E-Book »Über die kleine Form«, in dem er ein fiktives Gespräch mit dem Nobelpreisträger Bob Dylan führt, und MIRIAM LAY BRANDER gibt einen Überblick über die Tradition der Kurzformen, insbesondere der Aphorismen, von der französischen Klassik bis zum digitalen Zeitalter. Sie stellt besonders den Zusammenhang zwischen den klassischen Avantgarden von vor 100 Jahren heraus mit den kleinen, witzigen, teils absichtlich unsinnigen aber dennoch politischen Formen der »Twitteratur« von heute, die Art, wie sie in die Lebenspraxis eingreifen. Davon spricht auch Autorin und Verlegerin JULIETTA FIX im Gespräch mit ZOË BECK, und davon, ob sie als Betreiberin des Online-Portals fixpoetry.com Literatur im Internet als Geschäftsmodell vertritt.
»ich glaube in österreich ist sauna nicht soo beliebt
hier ist kälte beliebt
alle menschen wollen ständig lüften
sie betreten einen raum und begrüßen die leute mit
einem ‚boah! da stinkts aber pfiatigot maria & josef
da müssma lüften!‘. dann holen sie giftgas raus und
bringen alle lebewesen um. dann holen sie ihr
säurebad raus und vernichten alle spuren. Und
dann lüften sie
sie lüften die ganze zeit bei minus 2 grad.«
Puneh Ansari
»Das Ich ist das ärmste Personalpronomen«,
meint PAULA FÜRSTENBERG im nächsten Block, als sie mit Puneh Ansari über neue Autofiktionen spricht. Hier stehen sich zwei ganz unterschiedliche Positionen gegenüber, moderiert von MARIE SCHMIDT: während Paula Fürstenberg für die Erschaffung eines komplexen Roman-Ichs eine internetlose Schreibphase braucht und ihr Ich sich in den Zeit-Online-Artikeln schnell in ein »Wir« verwandelt (Wir, die Schreibenden, wir, die ostdeutsche Nachgeneration, wir, die Frauen etc.), entstehen Ansaris Kurztexte direkt im Netz und haben Facebook, die Internetverbindung und das soziale Netzwerk als Bedingung für das Entstehen. Die Kommentare der beiden Autorinnen erscheinen gleich auf der Twitter-Wall, die in den Saal an die Wand projeziert wird und auf der man nebenher mitlesen kann.
ZOË BECK @beck_zoe
»das ich ist das ärmste personalpronomen«, sagt paula fürstenberg #litimnetz
Am Nachmittag treffen sich alle in Workshops, es gibt Elektrolyrik, organisiert von den Autor*innen LEA SCHNEIDER und TILLMANN SEVERIN, hier schreiben die Mitmachenden eifrig an einem Kollektiv-Gedicht über Blässhühner über ein Piratepad.
ANDERAS BÜHLHOFF zusammen mit RICK REUTHER leiten den anderen Workshop und testen mit den Teilnehmenden 404 experimentelle Formen des Schreibens, woraus jeweils ein kleines chap book entsteht. Und THOMAS LANG erklärt und diskutiert, wie man in Gruppen Figuren entwirft und gemeinsam weiterentwickelt, wie er es bereits als Experiment für seinen Netzroman »Der gefundene Tod« ausprobiert hat.
Schließlich gibt es noch eine rege Diskussion, geleitet von Zoë Beck, zum Thema Gegenwart in der digitalen Literatur, bei der das Publikum eifrig mitdiskutiert. Auf dem Podium sitzen Paula Fürstenberg, Puneh Ansari und FLORIAN KESSLER. Fragen, die bleiben: löst die kleine Form den Gegenwartsroman insofern ab, als sie das Vielfältige, Zerspaltene, Schnelle unserer Zeit besser abbilden kann? Oder existieren die beiden Formen nebeneinander und ergänzen sich gegenseitig? Wird die Literatur durch das Internet gegenwärtiger oder geht die Gegenwart gerade online?
Eine ganz besondere Lesung bildet dann den fulminanten Abschluss der Tagung: FRIDOLIN SCHLEY vom Literaturportal Bayern stellt den auf der Tagung mysteriös verloren gegangenen Autor RICK FÜRSTENBRODT VON FIX-SARG vor, dessen Manuskripte kürzlich erst wiedergefunden worden waren. Sie werden per Video-Botschaft vorgelesen von der Lyrikerin NORA GOMRINGER. Der Autor Fix-Sarg stellt sich als fiktive Figur heraus, ist ein aus all den teilnehmenden Autor*innen zusammengeflicktes Textmaterial, Maskottchen der Tagung – genial. Unbedingt in seinen Nachlass reinschauen!
Einen weiteren Rückblick zur Tagung von MARLENA SIMMET gibt es ebenfalls auf dem LiteraturportalBayern
Fotos:
© Mario Steigerwald (sw) // © Tillmann Severin (Elektrolyrik) // © Katja Bohnet (404)
GALERIE DER 10 SCREENSHOTS IM COUNTDOWN
Ihr habt uns Eure Screenshots geschickt, vom Arbeiten und Recherchieren im Netz, literarische Textbeiträge zur Vorbereitung von unserer Tagung, wir sagen DANKE und stellen sie hier nochmal gesammelt online:
COUNTDOWN 10 – Nikola Huppertz 9 – Michaela Maria Müller
8 – Franziska Hauser 7 – anonym
6 – Tristan Marquardt 5 – Retweet Canzonett
4 – Michaela Maria Müller 3 – Marion Bösker
2 – Carola Gruber 1 – Daniel Bayerstorfer
TWITTER-WALL
Anne Stukenborg@AnneStukenborg
Gegenwart. Gegenwart. Gegenwart. Gegenwart. ‚Literatur hat ja Zeit.‘ -//How long is now? @f_kess @beck_zoe #screenshots @LithausMUC #litimnetz
Katja Bohnet @KatjaBohnet
Gibt es ein Leben nach der Fiktionalisierung des Ich? Und wenn ja, ist es verifiziert? #litimnetz #screenshots @LithausMUC
Im selben Raum zur Musik von Andrea Bocelli miteinander telefonieren. Sowas gibt’s nur bei #litimnetz
mikrotext @mkrtxt Antwort an @KatjaBohnet @LithausMUC
Wovon man nicht sprechen kann, kann man zumindest schreiben. 😉 #litimnetz #authentizität
Isssel Braungaart @Westalgy2001
Jan Kuhlbrodts erste Suchanfrage im Netz war “Thomas Pynchon” – meine war “DeepArcher”. #litimnetz @LithausMUC
Neuer Berufswunsch: Aphoristiker. #litimnetz #screenshots #schreibakademie
Alke MüllerWendlandt @AlkeKaren
Am Rande der SCREENSHOTS-Tagung @LithausMUC #litimnetz #kaffeeküche #wonachriechenelektrischebücher #träumenandroidenvonelektrischenschafen
max westphal @_omwo
Nicht jeder Tweet ist ein Aphorismus. (Miriam Lay Brander / #litimnetz in a nutshell)
MUCBOOK so München @mucbook
MUCBOOK so München hat ayla a retweetet
wie wird heute im netz geschrieben? welche (neuen) formen nimmt digitale literatur an? wir sind gespannt auf die #screenshots tagung im @LithausMUC und twittern für euch mit! #litimnetz #schreibakademie
Heinrich Rudolf Bruns @hrbruns
Heinrich Rudolf Bruns hat max westphal retweetet
Irgendwas mit Kürze, Würze. Die kleine Form noch kleiner machen. Der Brühwürfel des Internets. #litimnetz
Bettina Boeck lügt @Kunstbrei
Der wahre Tribut den man der Geltung schuldet, ist die Kommunikation #bCFZ #litimnetz
Ayla a @ayla_a_
#litimnetz ist, wenn sich der akku dann nach 8 stunden #screenshots tagung kurz vor knapp verabschiedet. danke für den inspirierenden austausch an die #schreibakademie & das @LithausMUC & natürlich alle vortragenden!
#litimnetz
#schreibakademie
#screenshots