35 Jahre Literaturhandlung

Eine Hommage an Rachel Salamander

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Rachel,

»Literatur kann, wenn sie wirklich gut ist, ihren Lesern den Weg zu inneren Orten weisen, an denen sie an das Wesentliche menschlichen Verständnisses, menschlicher Intuition und menschlicher Erfahrungen rührt. In einer guten Geschichte erfahren wir etwas über universelle, ewig gültige ethische Entscheidungen, über authentische, nicht manipulierte Emotionen.«

DAVID GROSSMANN, der von uns allen verehrte und geliebte israelische Autor, hielt Anfang dieses Jahres einen Vortrag hier in München anlässlich der Sicherheitskonferenz, mit einem glühenden, tröstlichen Plädoyer für die Literatur im postfaktischen Zeitalter.
Es gab zu Beginn dieses Jahres, das so viele, für uns vermeintlich auf ewig erreichte und verbürgte Wahrheiten in Frage stellte – immer wieder, so dass man sich beinahe  daran zu gewöhnen scheint – ein weitere Äußerung, die mich sehr beeindruckt hat: RUTH KLÜGER, die große austro-amerikanische Germanistin, tat sie in einem Interview im SZ-Magazin. Für sie, die so beispiellos unsentimental über ihre dramatische Kindheit berichtet, ist die Bedeutung von Literatur immer schon im Wortsinn existentiell gewesen: Als Dreizehnjährige rezitierte sie beim Appell im KZ Gedichte und Balladen von Goethe und Schiller, um

»der allgemeinen Auflösung etwas ästhetisch Geformtes entgegensetzen zu können. Gedichte halfen mir zu überleben. …Verse vor mich hin zu sagen, war ein Gegengewicht zum sinnlosen und destruktiven Zirkus, in dem wir untergingen. Was einem Halt gab, war die Form, die gebundene Sprache, das Gereimte.«

Rachel Salamander (Foto: Catherina Hess)

Warum, meine sehr verehrten Damen und Herren, zitiere ich gerade diese beiden Autoren – Ruth Klüger und David Grossman – , wo es um eine Hommage an RACHEL SALAMANDER und die Literaturhandlung geht? Ganz einfach: Sie war es, die diese Autoren erstmals in unsere Stadt brachte – David Grossman schon 1988. Nun »gehören« sie uns allen. Es sind beides Autoren, die meisterhaft und mit einfachen Worten zu erläutern vermögen, warum  Literatur existentiell wichtig ist – beide haben persönlich erlebte Tragik literarisch so umgesetzt, dass wir alle daraus Erkenntnis für unser eigenes Leben ziehen können. Und: Es sind zwei Namen, stellvertretend für die Hunderte von großartigen, deutschsprachigen und internationalen jüdischen Autoren, denen wir, dank Rachel Salamander, hier in München persönlich begegnen konnten und können.
Rachel Salamander hat, und dafür wurde sie vielfach gewürdigt und ausgezeichnet, die jüdische Kultur in diese Stadt zurückgebracht –  drei Jahrzehnte, nachdem diese fast vollständig verschwunden war. Und dies nicht nur durch die Gründung ihrer Buchhandlung, sondern vor allem, indem sie gezielt und klug und oft auch mutig eingeladen hat: Der Dialog mit den Autoren aus aller Welt hat unseren Horizont geweitet und tut dies weiterhin. Die Debatten und politischen Diskussionen halten unser Bewusstsein – auch das für historische Zusammenhänge – ständig auf dem neusten Stand.

Für mich persönlich ist es heute in zweifacher Hinsicht eine große Ehre und Freude, dass Rachel Salamander mich eingeladen hat, dieses Grußwort zu sprechen: Zum einen in meiner Funktion als – noch relativ neue – Leiterin des Literaturhauses: zu unserem großen Glück einer der wichtigsten Veranstaltungsorte für die Literaturhandlung – dazu gleich noch mehr. Und zum anderen als Freundin von Rachel und von STEPHAN SATLLER – was ich wiederum der bald 50 Jahre währenden Freundschaft zwischen Rachel, Stephan und PATRICK SÜSKIND zu verdanken habe, einer Freundschaft, in die ich ganz selbstverständlich aufgenommen wurde.

Bevor ich nun auf die für das Literaturhaus so immens wichtige Zusammenarbeit mit Rachel Salamander eingehe, darf ich mich kurz daran erinnern, wann ich selbst das erste Mal mit der Literaturhandlung in Berührung kam: Wir haben es gerade gehört, die Buchhandlung eröffnete 1982 in der Fürstenstraße, damals absolvierte ich meine Buchhändlerlehre in der Buchhandlung Kaiser am Marienplatz. (Die Buchhandlung gab es kurze Zeit später nicht mehr, die Konkurrenz vom neu eröffneten Hugendubel war zu groß – wie es Hugendubel heute selbst ergeht, wissen wir).
Ich erinnere mich, dass ich zunächst keine rechte Vorstellung davon hatte, was das konkret hieß: Literatur zum Judentum und von jüdischen Autoren. Als ich erstmals dort war, in dem schönen Ladenlokal, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das war gar nicht nur spezialisierte Literatur, das waren schlicht die Autoren, die uns die Welt öffneten. Mein Lieblingsbuch damals war die soeben auf Deutsch erschienene ergreifende Liebesgeschichte »Shosha« von ISAAC BASHEVIS SINGER: die Geschichte zwischen einem jungen angehenden Schriftsteller und einem geistig behinderten Mädchen spielte im chassidischen Viertel von Warschau während der 1930er Jahre. Ich erinnere mich bis heute an das Cover mit der zarten Zeichnung von Edvard Munch. (Das Buch ist bei Hanser erschienen, aber ich hatte die DTV-Ausgabe). Was bedingungslose Liebe ist, das habe ich als Zwanzigjährige mit diesem Buch verstanden.
Und dann kamen die Lesungen in der Literaturhandlung, viele, mitreißende: Es war immer gesteckt voll in der Buchhandlung, das Kondenswasser lief von den Fenstern, und man war – zumindest physisch –  auf Augenhöhe, manchmal beinahe sogar auf Tuchfühlung mit Autoren, von denen einige schon Weltstars waren, andere es noch wurden. David Grossman war einer davon. Später, nach meinem Studium,  als Lektorin im Piper Verlag, wo ich eine Vielzahl jüdischer Autoren betreuen und zu Lesungen in die Literaturhandlung begleiten durfte – darunter YEHUDA AMICHAI (geboren als Ludwig Pfeuffer in Würzburg, in den 1930er Jahren mit seinen Eltern nach Palästina emigriert), A.B. »BULLY« JEHOSCHUA, IDA FINK -, gab es immer wieder wunderbare Abende, die von Rachel ebenso professionell wie persönlich  gestaltet waren – und die nicht selten bei riesengroßen panierten Schnitzeln um die Ecke bei »Cohen’s« endeten.

Seit 20 Jahren nun, seit Bestehen des Literaturhauses am Salvatorplatz, findet ein Großteil von Rachel Salamanders Veranstaltungen dort statt: Ihr fantastisches Netzwerk, ihre enge Verbundenheit mit vielen Autoren von Weltrang, kommt dem Programm des Literaturhauses aufs Beste zugute. Das wusste mein Vorgänger REINHARD G. WITTMANN – und davon profitieren nun auch wir, mein Team und ich. Was mich besonders daran freut – und ich glaube, Rachel Salamander weiß dies ebenfalls zu schätzen: Unser Publikum ist sehr gemischt, es ist ein aufgeschlossenes Münchner Publikum, zum Teil auch aus der näheren Umgebung, aber es ist kein ausschließlich jüdisches Publikum.

Bitte erlauben Sie mir zum Abschluss einen kurzen Schlenker zur Geschichte unseres Hauses, die zeigt, dass dieser Veranstaltungsort in verschiedener Hinsicht prädestiniert ist als gastgebender Ort für Rachel Salamanders Einladungen. Dort, wo heute das Literaturhaus steht, befand sich das erste Opernhaus Münchens (1651 eingerichtet vom bayerischen Hof als Comoedie-hauß, die erste Aufführung 1654 »Die widerspenstige Nymphe« eines unbekannte Verfassers ), Später, als die Oper von hier weg an ihren heutigen Standort umzog, wurden an der Stelle Markthallen errichtet. Das Gewölbe sehen Sie heute noch im Restaurant OskarMaria. Über den Markthallen wurde im 19. Jahrhundert eine Schule errichtet, zeitweise war hier auch die Musikbibliothek untergebracht.

Also: das Opernhaus für die Unterhaltung, die Bibliothek und die Schule für die Bildung, die Markthalle als Treffpunkt für Austausch und Debatte. Unterhaltung, Bildung, Debatte, Begegnung – das ist es, wofür das Literaturhaus steht, und es greift damit die Idee von Rachel Salamander auf: Inhalte in der Begegnung mit Autoren zu vermitteln und zu vertiefen. Der große Zulauf, den alle Veranstaltungen fast täglich haben, zeigt, dass das Bedürfnis dafür groß ist und tendenziell größer wird: Ich freue mich auf viele, viele gemeinsame Projekte in der Zukunft.
Eines muss ich jedoch einräumen: Wofür das Literaturhaus dreieinhalb Jahrhunderte brauchte, schaffte die Literaturhandlung in nur dreieinhalb Jahrzehnten: ein lebendiger Ort intellektuellen Austauschs zu sein. In diesem Sinne: Ad multos annos.

Rede zum 35. Jubiläum der Literaturhandlung, gehalten am 15.10.2017 im Foyer des jüdischen Museums, Sankt-Jakobs-Platz in München
© Tanja Graf/Literaturhaus München

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