Artists in Residence in St. Moritz

Texte aus der Sommerfrische I von Katja Bohnet

v.l.n.r. Nava Ebrahimi, Benedikt Feiten, Nikola Huppertz, Denis Pfabe & Katja Bohnet

Die wunderbare Kooperation zwischen dem Literaturhaus München und dem Hotel Laudinella geht ins zweite Jahr. Vom 25. Juni bis zum 1. Juli 2017 beherbergt das Hotel Laudinella fünf Autor*Innen, die alle an den Seminaren der Bayerischen Akademie des Schreibens teilgenommen haben. Die Auswahl der Autoren ist so bunt und verschieden wie das Angebot dieser Fortbildungsinstitution. Inzwischen sind ihre (ersten) Romane erschienen, und sie freuen sich über die Gelegenheit in der Woche in den Bergen an neuen Büchern zu arbeiten und sie gemeinsam zu besprechen.

MEHR ZUM ARTISTS IN RESIDENCE-PROGRAMM:
BLOG-Artikel (25.4.2017: Laudinella meets Literaturhaus meets Bayerische Akademie des Schreibens)
BLOG-Artikel (2.12.2016: Comic-Artists in Residence)

Hier im BLOG  – direkt aus der Sommerfrische – veröffentlichen wir in den kommenden Tagen Texte von KATJA BOHNET, einer der Autor*Innen vor Ort.

Katja Bohnet weilt derzeit im Rahmen des Artists in Residence-Programms mit Nava Ebrahimi, Benedikt Feiten, Nikola Huppertz & Denis Pfabe im Hotel Laudinella in St. Moritz  und schreibt von dort für unseren Blog.

»Komm näher und tritt ein. Ich bin nur eine harmlose Schriftstellerin und stehe auf Spannungsromane und saure Pommes. Wenn Besuch kommt, koche ich Kaffee. Nimmst du deinen mit Zucker, Milch oder Arsen?«

So begrüßt uns KATJA BOHNET auf ihrer Homepage. Als sie 2014 in das Krimiseminar der BAYERISCHEN AKADEMIE DES SCHREIBENS mit Zoë Beck & Thomas Wörtche kam, hatte sie schon einen Buchvertrag in der Tasche. Seither hat sie fünf Romane veröffentlicht, die mit Rasanz und einer gehörigen Dosis Pulp Fiction in die Welt des Verbrechens, aber auch auf Bestenlisten und zu Glauser-Preis-Nominierungen führen. Das jüngste Werk heißt »Fallen und Sterben« (Knaur 2020). Katja Bohnet lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in der hessischen Provinz.

Kein Tagebuch

25. Juni 2017 – Tag der Anreise
„Es wird ein Mord passieren“, sagte ich.
„Hoffentlich nicht nur einer“, antwortete er.
„Natürlich nicht“, versprach ich ihm. Ein Fall für die Justiz. Es würde einen Richter geben, einen Henker, die Sache würde nahtlos aufgeklärt.
Ich traf Friedrich Dürrenmatt an einem durchwachsenen Sommertag im Monat Juni. Die Rhätische Bahn ruckelte mit Schieflage an einem Abhang entlang. Wir hatten in dem einzigen Wagon der zweiten Klasse Platz genommen. Die anderen zwölf Wagons der ersten Klasse waren völlig überfüllt. Er saß mir gegenüber. Unmöglich, dass sich unsere Knie auf engstem Raum nicht berührten. Wir putzten gleichzeitig unsere dunklen Hornbrillen. Die Wolkenfetzen, die am Fenster vorbeizogen, ließen sich kaum von Nebel unterscheiden. Dürrenmatt schnäuzte sich die Nase in ein weißes Stofftaschentuch, das dem meines Vaters bis auf den braunen Kreuzstich am Saum glich.
„Heutzutage braucht man mit dem Flugzeug nach Bangkok genau so lange wie mit der Bahn in die Schweiz“, sagte ich.
„Nicht, wenn Sie in der Schweiz wohnen“, sagte Dürrenmatt. Auf einem Blatt Papier berechnete er mit einem schwarzen Mont Blanc Füller Tage, Minuten und Entfernungen, die er mit der Anzahl der Sonnenstunden im Winter multiplizierte. „Zeit ist relativ in diesem Land“, sagte er.
„Und was ist mit den Skiliften, die immer genau um sechzehn Uhr schließen?“, fragte ich.
Dürrenmatt behauptete, dass dies ein Verbrechen sei. Als er rechnete und die Ergebnisse mit blauem Doppelstrich markierte, erinnerte er mich an einen Physiker. Er reichte mir seine Karte, auf der „Der Pensionierte“ stand.
Eine Reisende neben uns blätterte in einem Naturkundeführer. Keine alte Dame, sondern eine junge, die vielleicht jemanden besuchen würde. Sie trug geflochtene Affenschaukeln und über der weißen Trachtenbluse eine Jeansweste mit aufgenähten Totenköpfen. Am nächsten Bahnhöfli bremste der Zug scharf. Dürrenmatt murmelte, dass er den Schaffner im Verdacht habe, die Ankunft zu verzögern. Ein Pferdeanhänger blockierte die Schienen. Der Stationsvorsteher in schwarzer Uniform rührte sich nicht. Neugierige Anwohner öffneten kleine Holzfenster, vor denen bunte Geranien in exaktem Abstand zueinander blühten.
Dürrenmatt sah mich wachsam an. „Hoffentlich keine Panne“, sagte er. Er zündete sich trotz des Rauchverbotes eine Pfeife an und paffte Rauchringe in die Luft.
Mit Verspätung konnte der Zug endlich passieren. „Lebende Tiere“ besagte ein Schild, das auf der Seite des abgeschleppten Anhängers prangte.
„Wenn der Schweizer etwas ernst meint“, sagte Dürrenmatt, „sagt er es mit Humor.“
Wir fuhren durch einen Tunnel. Danach lichtete sich der Nebel. Durch das grünes Tal floss ein reißender Fluss. Auf einer Bergspitze lag Schnee. Grauer Fels falteten sich in Schichten. Es rauschte, ratterte und knirschte. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Sankt Moritz. Endstation. Als wir uns inmitten des anschwellenden Rauschens der an uns vorbeieilenden Rollkoffer mit Handschlag verabschiedeten, gab mir Dürrenmatt ein Versprechen. Er sei kein Grieche und suche keine Griechin, aber wenn ich dieses Land nicht liebte, würde er mich zum Tanztee einladen. Einer Veranstaltung, die er über alles schätzte. Ich willigte unter der Bedingung ein, dass es ihn nicht störte, mit einer Mörderin zu tanzen. „Ach“, sagte er, „Sie morden doch nur auf dem Papier.“

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