Die Arbeit als Praktikant für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im Literaturhaus München ist schön und befriedigend. Man liest so viel Zeitung, dass man immer weiß, aus welchem Zoo gerade ein Pinguin gestohlen wurde und warum Brad Pitt keinen Käse mag. Und manchmal, da gibt es diese magischen Momente.
Zur der Sicherheitskonferenz, wenn München sich in einen riesigen Polizeikessel verwandelt, war Wole Soyinka am Freitag bei uns im Rahmen des literarischen Begleitprogramms »›Das Kassandra-Phänomen‹ SchriftstellerInnen als Seismografen unserer Zeit« zu Gast.
Als Spätgeborener bin ich mit Soyinka nicht vertraut, als er 1986 den Nobelpreis für Literatur erhielt, hörten meine Eltern noch in verrauchten Zimmern Joy Division und stritten über Marx. Aber nach etwas Wikipedia-Recherche zeigte ich mich durchaus beeindruckt. Ein Stichwortgeber, ein Bote des Zeitgeist, ein Mahner im besten Sinne war dieser Soyinka, und ich legte ihn im Geiste auf meinen gigantischen Stapel von Autoren, die man wohl gelesen haben muss, aber nie dazu kommt, weil man mit Artikeln über geklaute Pinguine beschäftigt ist.
Am Tag der Lesung stand ich verschlafen im Büro unseres kaufmännischen Leiters herum und ordnete Rechnungen ein, als sich dieser mit verschwörerischem Blick näherte und mir einen Geldschein in die Hand drückte.
»Du, kannst du vielleicht kurz eine schlichte Lesebrille kaufen gehen? Sie ist für den Nobelpreisträger. Das kannst du nochmal deinen Enkeln erzählen!«
Ich schaute etwas überrumpelt.
»Traust du dir das zu?«, fügte er mit einem schelmischen Grinsen hinzu.
Und ich nickte ohne Zögern.
Vier etwas dröge dreinschauende Polizisten standen aufgereiht wie Schießbudenfiguren vor dem Eingang und sahen mir nach, als ich durch den Nieselregen in Richtung Warenhaus trottete. Auf dem Marienplatz tummelten sich Friedensbewegte und winkten mit bunten Schildern. Ich betrat den Konsumtempel durch den Haupteingang und fuhr in den Keller, zu den Schreibwaren.
Eine Verkäuferin sprang auf mich zu und fragte mich nach meinem Begehr.
»Ich suche eine schlichte Lesebrille«, gab ich zurück.
»Wollen sie diese hier mal aufsetzen?« bot sie an, und reckte mir ein simples, schwarzes Gestell entgegen.
»Nicht für mich«, wehrte ich ab, »Sie ist für einen älteren Herren. Zum Vorlesen.«
»Zum Vorlesen?« – die Augen der jungen Dame verengten sich.
»Sie kriegen vorgelesen?«
»Nein, nein, er liest anderen Leuten vor. Vielen Leuten. Er ist, äh, ein Literaturnobelpreisträger.«
Mein Selbstbewusstsein bröckelte. Die Frau nickte auf unangenehm einfühlsame Art. Ich begann zu schwitzen.
»Ich kriege das hin, vielen Dank!«, sagte ich mit fester Stimme, um Kontrolle über die Situation vorzutäuschen.
Die Dame zog sich zurück, aber beobachtete mich weiterhin misstrauisch aus der Ferne.
Nun ging es an die Auswahl des Modells. Ich zog mein Handy aus der Tasche und googelte »Wole Soyinka«. Der Meister blickte mir hundertfach mit getragenem Blick entgegen, aber auf keinem der Bilder hatte er eine Brille auf. Nach 10 Metern Scrollen fand ich schließlich ein Foto, auf dem er ein rundliches, hippes Gestell trug. Aber entsprach das noch heute seinen modischen Vorlieben? Nervosität ergriff mich. Ich sah die Schlagzeilen in allen wichtigen Münchener Blättern vor meinem inneren Auge vorbeiziehen:
»Literaturnobelpreisträger Soyinka trägt stimm- und wortgewaltig vor. Einziges Manko des Abends: Seine indiskutable Lesebrille. Unfähiger Praktikant verantwortlich?«
Mich schauderte. Kurzentschlossen griff ich ein schlichtes, schwarzes Modell heraus und setzte es auf. Alles verschwamm. Ich fühlte mich wie ein Schmiedegehilfe, der mit dem Schwert des Meisters probehalber auf einen Sack Stroh schlägt. Ratlos blickte ich zwischen den Shoppenden umher. Mein Blick fiel auf eine rosa Brille mit grünen Bärchen darauf, die Krawatten trugen. Ich wies mich sofort streng zurecht. Dieser Mann kam in unsere Stadt, um uns mit lauter Stimme Bedeutendstes, ja Weltbedeutendes mitzuteilen, um Rat zu spenden in diesen unsicheren politischen Zeiten, und ich dachte darüber nach, ihm als Gag eine Bärchenbrille zu überreichen. Dann setzte ich die schlichte Brille ab und kaufte sie. Sie war so gut wie jede.
Nachdem ich dem Vortrag tragischerweise nicht selbst beiwohnen konnte, schlug ich am darauffolgenden Montag voller Spannung die Zeitung auf, ließ die Pinguine und Brad Pitt links liegen und blätterte schnurstracks zum München-Teil.
Da blickte mir Soyinka entgegen, mit getragenem Blick, und in seiner Hand: Die Lesebrille. Soyinka habe, so der Verfasser des Artikels, eingangs über Probleme mit seinen Augen geklagt, und die Hoffnung ausgedrückt, dass der Vortrag trotzdem wie geplant ablaufen könne. Der große Literat habe dann schließlich doch nur erzählt, statt vorzulesen, seine Fabulierkunst sei ohne Beispiel gewesen. Kein Wort über eine indiskutable Lesebrille. Zufrieden lehnte ich mich zurück. Zu sagen, dass ich den Tag gerettet hätte, wäre wahrscheinlich ein wenig übertrieben. Aber ich hatte ihn auch nicht ruiniert, und das ist es schließlich, was einen guten Praktikanten ausmacht.
KALEB ERDMANNist zwar im Pott geboren, aber in Bayreuth, Erfurt und vor allem München aufgewachsen. Er betreibt den Kurzgeschichtenblog Zeitdeszerfalls und fährt als Poetry Slammer durch die Republik. Themen seiner Texte sind unter anderem Erdnussbutter, Til Schweiger, der kleine Mann, sowie »die Gesellschaft«. Er lebt in Frankfurt am Main, wo er politische Theorie studiert und absolviert bis Ende März ein Praktikum im Literaturhaus München
Großartig! Danke lieber Kaleb!