Lesungskritik: ›Could you please save me from the love that I feel‹

Benedict Wells & Jacob Brass (endlich!) im Literaturhaus

Der Abend: Ein Gesamtkunstwerk!
Der Abend: Ein Gesamtkunstwerk!

»Mehr als über Sie hier alle, freue ich mich auf einen Einzelnen auf dieser Bühne«.

Anne Kathrin Brocks begrüßt charmant die anwesenden Gäste und das Publikum und erklärt, warum es ein langer Weg war, Benedict Wells endlich auf die Literaturhaus-Bühne zu bekommen. Freundlich aber bestimmt habe er die Lesungen aus den vergangenen drei Büchern abgesagt, wollte er doch in der Buchhandlung seiner Kindheit lesen, der Buchhandlung Lehmkuhl in Schwabing.

»Aber wer uns kennt, weiss, da bleiben wir dran!«.

Und nun ist er also da. Und hat auch noch den befreundeten Musiker JACOB BRASS mitgebracht, der uns an diesem Abend den Soundtrack liefert zu Benedict Wells Roman »Vom Ende der Einsamkeit« (Diogenes Verlag), welches dieser Tage erschienen ist. Florian Kessler führt das Gespräch (»Sie sind Zeuge eines Gesamtkunstwerkes!«). Und auch die Buchhandlung Lehmkuhl ist mit einem Büchertisch dabei. Alles perfekt also.

Jacob Brass
Jacob Brass © Heike Bogenberger

Jacob Brass spielt gleich zu Beginn des Abends »Between the Bars« von Elliott Smith. Und er tut dies ganz wunderbar!

»Gibt es Dinge in deinem Leben, die alles überstehen?«

Die Geschwister Jules, Marty und Liz, verlieren durch einen tragischen Autounfall ihre Eltern. Gemeinsam gehen sie auf ein Internat, leben sich aber dort – trotz der räumlichen Nähe – komplett auseinanderleben. Jules findet in dieser Zeit in der geheimnisvollen Alva eine Freundin. Wie ergeht es den Geschwistern und Freunden danach, wer sind sie als Erwachsene und finden sie wieder zueinander? Das erzählt der Roman in zehn Kapiteln. Worum aber geht es eigentlich? Benedict Wells Roman kreist um die Frage, was in einem Menschen unveränderlich ist, egal, welchen Verlauf sein Leben nimmt. Fragen, die auch die Protagonisten des Romans, vor allem das Liebespaar Jules und Alva, selbst diskutieren.

»Was wäre das Unveränderliche in dir? Das, was in jedem Leben gleich geblieben wäre, egal, welchen Verlauf es genommen hätte. Gibt es Dinge in deinem Leben, die alles überstehen?« (…)
»Hm … Kierkegaard sagt dazu: Das Selbst muss gebrochen werden, um Selbst zu werden.« (…)
»Um sein wahres Ich zu finden, ist es notwendig, alles in Frage zu stellen, was man bei seiner Geburt vorgefunden hat. Manches davon auch zu verlieren, denn oft lernt man nur im Schmerz, was wirklich zu einem gehört … Es sind die Brüche, in denen man sich erkennt.«

Auch wenn die Passagen, die an diesem Abend vorgelesen werden, fast ausschliesslich zu Beginn des Buches, also im Internat spielen, so sei dies Buch aber kein Internatsbuch*. Und auch wenn im Buch wirklich viele tragische Schicksalsschläge vorkommen, gäbe es schon auch Stellen, wo nicht nur gelitten wird … Auf die Frage von FLORIAN KESSLER, wie ein solcher Roman zu seinem Schriftsteller komme, antwortet Wells dann auch prompt:

»Ich dachte komischerweise, es würde ein recht lustiges Buch werden. Keine Ahnung, was ich mir da vorgestellt habe. Das macht auch überhaupt keinen Sinn. Ich habe dann im Laufe des Schreibens gemerkt, dass ich keine Lust mehr hatte, mich in Ironie zu flüchten. Ich wollte hinschauen. Wenn man gleich wieder wegschaut, dann sieht man oft nur den Schrecken. Aber wenn man hinschaut, kann man vielleicht auch etwas finden, was man dem entgegenstellen kann, etwas Hoffnungsvolles. Und das wollte ich machen!«

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Benedict Wells & Florian Kessler © Heike Bogenberger

Aus den ursprünglich 800 Seiten des Buches wurden beim Schreiben knapp 360. Wells hat im Laufe der Jahre – wie bei einem Jenga-Turm – einzelne Szenen rausgezogen, um die Geschichte möglichst dicht und spannend zu erzählen. Ein Bild, welches Florian Kessler ganz besonders gut gefällt. Dieses unsichtbare Buch neben dem Buch, diese »entfallenen Szenen«, würde man gerne lesen, umsomehr, da ihr Autor sie ebenfalls zu vermissen scheint.

»Could you please save me from the love that I feel«

»Save me«

Jacob Brass’ Eigenkomposition, ein Lied über das Gefühl, sich gegen ein Gefühl wehren zu müssen, ist der nächste Song, der perfekt zum Ton des Buches passt, den Florian Kessler so beschreibt:

»Keine Traurigkeit, die uns niederschmettern muss, sondern sie führt tatsächlich auch zu was hin«.

Ein trostreiches Buch also, mit dem es sich so verhält:

»Man hört einen traurigen Song und man leidet auch ein bisschen währenddessen .. und danach geht es einem besser.«

Benedict Wells

Ein wunderbarer Abend mit einem charmanten Podium. Ein bekannter Bestseller-Autor, ein kluger Moderator und eine musikalische Neuentdeckung aus München, für die wir Benedict Wells sehr dankbar sind. Und: Eine uneingeschränkte Buchempfehlung!

LIEBLINGSPASSAGE:

»›Ich hätte ihm eine reinhauen sollen‹, sagte ich großmäulig und nahm noch einen Schluck Schokolade.«
»Es passiert nicht mehr so häufig, dass Bilder der Vergangenheit nach mir greifen, doch wenn es geschieht, bin ich jedes Mal überrascht, wie sehr das Licht der Erinnerung manche Momente zum Leuchten bringt. Ein gewöhnlicher Abend im Internat wird im Rückblick zu einem wunderbaren Erlebnis. Ich sehe mich neben meinen Mitschülern am See sitzen, wir trinken etwas, scherzen über einen von uns, malen uns die Zukunft aus. Mein Gedächtnis rückt mich nun jedoch näher an die anderen heran, als es tatsächlich der Fall gewesen ist, platziert mich liebevoll in der Mitte des Geschehens. Plötzlich lache ich unbeschwert mit meinen Mitschülern, dabei weiß ich, dass es auch ganz andere Momente gegeben hat. Und doch kann ich spüren, dass ich damals zufrieden gewesen sein muss. Das Gedächtnis ist ein geduldiger Gärtner, und der winzige Samen, den ich an jenem Abend im Internat in meinem Kopf angelegt habe, ist im Laufe der Jahre zu einer prächtigen Erinnerung herangewachsen.«

© Heike Bogenberger
Benedict Wells liest © Heike Bogenberger

ZUM WEITERLESEN
Søren Kierkegaard »Die Krankheit zum Tode«, 1849 // Rainer Maria Rilke »Schlußstück«, 1900 // Carson Mc Cullers »Das Herz ist ein einsamer Jäger« (Alvas Lieblingsbuch), 1940 // Ernest Hemingway »Schnee auf dem Kilimandscharo«, 1936 // Harper Lee »Wer die Nachtigall stört«, 1960 // John Green »Eine wie Alaska« (*»Das ist ein tolles Internatsbuch, by the way!«), 2005

ZUM WEITERHÖREN
Jacob Brass »Norway« // Jacob Brass »Save me« // Audrey Hepburn »Moon River«, 1961 // Dave Brubeck »Time Further Out«, 1961 // The Beatles »Across the Universe«, 1970 (»Wenn das Buch ein Film wär, wär’ das der Abspann«, Benedict Wells) // Nick Drake »Pink Moon«, 1972 // Paolo Conte »Via con me« (»›Jules, pass auf‹, sagte sie [Jules Mutter], als wir tanzten. ›Wenn du ein Mädchen kriegen willst, dann tanz mit ihr zu diesem Lied‹«), 1981 // Elliott Smith »Between the Bars«, 1997

DI 8.3.2016
»VOM ENDE DER EINSAMKEIT«
LESUNG MIT BENEDICT WELLS

Musik: Jacob Brass (Gitarre)
Moderation: Florian Kessler

3 Kommentare zu “Lesungskritik: ›Could you please save me from the love that I feel‹”

  1. und manchmal hat man einfach keine Lust durch den kalten Abend ins Literaturhaus und flüchtet stattdessen aufs heimische Sofa. Da sitzt man dann und denkt an die Lesung die man gerade verpasst und ärgert sich fürcherlich. So kann es gehen. Warum hat das Literaturhaus aber auch nicht einfach so ein paar praktische Kapseln wie in Japan, in denen man wunderbar übernachten kann? Da legt man sich nach der Lesung rein, liest noch was schönes oder bekommt – noch viel besser – etwas vorgelesen und muss nicht mehr durch die kalte Nacht radeln und träumt wahrscheinlich bestens. Und ärgern muss man sich auch nicht.
    Werden Sie bitte darüber nachdenken. Wir wollen doch nicht, dass ich noch häufiger leise weinend auf dem Sofa sitze? Eine kleine Kapsel, ok ?
    Der schöne Bericht gibt mir aber zumindest ein wenig das Gefühl dabeigewesn zu sein. Das Buch möchte ich jetzt auch auf der Stelle kaufen und ne dickere Winterjacke, dann komm ich nächstes Mal doch wieder. Bis ihr die Kapseln habt. Grüße vom Bingereader 😉
    http://bingereader.org/

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