(Dieses Interview führen wir schriftlich per Email // Übersetzung aus dem Englischen: Ayla Amschlinger)
MARION BÖSKER: Wo bist Du gerade?
HALLGRÍMUR HELGASON: In meinem Studio in Reykjavik.
MB: Hallgrímur, ich erinnere mich immer wieder gern an Deine Lesung hier in München, als Du Deinen Roman »Eine Frau bei 1000°« vorgestellt hast. Wie hast Du diesen Abend in Erinnerung?
HH: In sehr guter Erinnerung! Es waren so viele Leute da und die Stimmung war toll, einfach ein wunderbares Erlebnis.
MB: Die Bude war voll, wie man so schön sagt. Hast Du damit gerechnet, dass Du so viele Zuhörer haben wirst hier in München?
HH: Nein, das war wirklich eine Überraschung für mich. Mein Verhältnis zu München war schon seit damals, als ich noch an der Akademie der Bildenden Künste studiert habe, eher schwierig gewesen. Das war wahrscheinlich überhaupt die schwierigste Zeit in meinem Leben, ich wusste einfach nicht, wer ich war. Ich war sozusagen der unerkannte Künstler, und das zu sein, ist ein bisschen wie heimlich schwul zu sein. Das bedeutet sehr viel Leiden.
MB: Ich habe Dich damals mit dem Taxi im Hotel abgeholt und ins Literaturhaus gebracht; auf der Fahrt hast Du immer wieder von Deiner Zeit als Kunststudent in München erzählt. Die Idee zu Deinem neuen Roman ist Dir aber nicht während dieser Taxifahrt gekommen, oder?
HH: Oh doch, ich war damals tatsächlich nur eine Taxifahrt von dieser Idee entfernt! Das war wirklich Wahnsinn! Nach meiner Lesung im Literaturhaus bin ich zurück ins Hotel gefahren und konnte erstmal nicht einschlafen. Alles war so merkwürdig und aufregend, ich hatte gerade diesen tollen Abend hinter mir, hatte erfolgreich vor einem begeisterten Publikum gelesen – und dabei war doch München eigentlich immer die Stadt meines Leids [im Orginal »city of pain«, klingt auf Deutsch irgendwie doof]. So viele verschiedene Gefühle durchströmten mich und da kam mir die Idee für meinen neuen Roman »Seasick in Munich«. Als ich da so zufrieden lag, voll von Energie und Erfolg, ist mir aufgegangen, dass ich damals, im Winter 1981, tatsächlich krank gewesen bin. Jung zu sein ist ja manchmal als ob man eine Krankheit hätte und von diesen Symptomen handelt nun mein neues Buch.
MB: Wie kam es dazu, dass Du ausgerechnet in München studiert hast? Was war Dein allererster Eindruck von München – kannst Du Dich daran erinnern?
HH: Das war wirklich Zufall. Ich wollte unbedingt nach Deutschland kommen, um genau zu sein nach West-Berlin damals. Ich wollte einfach frei sein, ich selbst sein, ohne großartig zur Universität gehen zu müssen. Aber mein Freund hat mich dazu überredet, mich an der Kunstakademie zu bewerben, sonst hätte ich mich ja gar nicht für längere Zeit einfach so in Deutschland aufhalten dürfen. Zu diesem Zeitpunkt waren alle anderen Fristen schon verstrichen, außer eben in München. Mein erster Eindruck von München war, dass es sehr schwerfällig und gleichzeitig ablehnend war, eine große Stadt, aber mit einem bäuerlichen Einschlag. Außerdem wirkte es ziemlich feindselig auf mich, da ich kaum Deutsch konnte und auch noch nie zuvor in so einer großen Stadt außerhalb meines kleinen Islands gelebt hatte. In Island kannte ich einige Landwirte, und als kleiner Junge habe ich ganze Sommer auf verschiedensten Höfen verbracht (eine isländische Tradition), und die Landwirte waren immer sehr streng und von einem eher abweisenden Menschenschlag. Im ersten Moment hat mich München ein bisschen an diese Menschen erinnert …
MB: Wenn Dich ein Freund in Island fragt: »Was ist das Besondere an München?« – was sagst Du ihm?
HH: FC Bayern, Biergärten und der Föhn.
MB: Und wenn Dich ein Bayer fragt: »Was ist das Besondere an Reykjavik?«
HH: Das fragen wir Isländer uns eigentlich ständig selbst: Was ist das Besondere an Reykjavik? Warum kommen überhaupt Leute hierher? Das Wetter ist zu 90% des Jahres schlecht und zusätzlich liegt Island fast am Ende der Welt. Aber wenn ich auf die Frage antworten müsste, würde ich sagen, dass Reykjavik eine junge und vibrierende Stadt ist, und die ganzen Künstler, Musiker, Schauspieler, Regisseure und Schriftsteller für eine unglaublich kreative Atmosphäre sorgen.
MB: Island, dieses dünn besiedelte Land, hat überproportional viele Schriftsteller und Künstler hervorgebracht. Wie erklärst Du Dir das?
HH: Für sehr lange Zeit existierte in Island einfach nichts und es gab überhaupt keine Kunstszene. Es ist ein bisschen, wie wenn man den Deckel von einem überkochenden Topf nimmt.
MB: Würdest Du Deine eigenen Bücher als »typisch isländisch« bezeichnen? Falls Ja: Was IST denn überhaupt typisch isländisch?
HH: Hoffentlich sind es nicht allzu isländische Bücher. Aber sicherlich gibt es in ihnen Anhaltspunkte, die darauf hinweisen, dass sie in Isländisch geschrieben worden sind. Bei uns gibt es diese Floskel: »Das ist aber vielleicht eine gute Geschichte«. Wir benutzen das immer dann, wenn wir von etwas gehört haben oder jemanden treffen. Eine »gute Geschichte« zu hören ist uns viel wichtiger, als eine wahre Geschichte zu hören. Daher gibt es bei uns die Tendenz, Geschichten ein bisschen auszuschmücken, sie ein bisschen unterhaltsamer, verrückter oder auch sarkastischer zu machen, selbst wenn es sich um etwas eigentlich Trauriges handelt.
MB: Du hast außerdem in Paris studiert und in NY, bist aber nach Island zurückgekehrt. Könntest Du Dir vorstellen, in irgendeiner anderen Stadt, in irgendeinem anderen Land zu leben? Was bedeutet für Dich »Heimat«?
HH: Heimat ist für mich wie eine leere Seite, das ist das Beste daran. Jeden Morgen vor einer leeren Seite, einem leeren Bildschirm aufzuwachen, bedeutet, dass es egal ist, wo du eigentlich lebst. Ich habe schon überall gewohnt, viel in Italien, Spanien oder an anderen sonnigen Orten gearbeitet, wo ich die Sprache nicht konnte und niemanden kannte. Das hat mir sehr mit meiner Konzentration geholfen. Aber jetzt da ich Kinder habe, bin ich seit 2003 in Island hängen geblieben. Ich würde aber gerne wieder woanders leben, in den USA oder den Alpen oder vielleicht ganz weit weg irgendwo in Asien.
MB: Was bist Du »zuerst«: Künstler oder Schriftsteller?
HH: An erster Stelle Schriftsteller, dann Maler, technischer Zeichner, Lyriker, bildender Künstler, Dramatiker, Drehbuchautor, Übersetzer, politischer Kommentator … also eine ganze Menge.
MB: Gibt es einen Künstler, den Du bewunderst?
HH: Als junger Mann war ich sehr von Marcel Duchamp fasziniert, darum geht es auch in meinem neuen Buch. Dieser Einfluss hat mich seitdem immer verfolgt. Ansonsten finde ich die Spanier genial, Velázques, Goya, Picasso … letztes Jahr habe ich die Dalí Retrospektive in Madrid gesehen und kam mit Tränen in den Augen aus dem Museum. Er war sicherlich einer der bedeutendsten Künstler des letzten Jahrhunderts. Ansonsten mag ich Marlene Dumas, Richter und die Portraits von Hockney …
MB: Und einen Schriftsteller?
HH: Nabokov und Halldór Laxness.
MB: Welches Buch hast Du zuletzt gelesen?
HH: Ich habe gleichzeitig »Lieben« von dem norwegischen Schriftsteller Knausgard und »Remember the Time« gelesen. Letzteres ist ein Buch geschrieben von Michael Jacksons Bodyguards, über dessen letzte Jahre. Beide kann ich empfehlen! Im Moment lese ich gerade ein weiteres Mal »Hundert Jahre Einsamkeit« von Gabriel García Màrquez. Ein Dschungel voll von Generälen, Schönheiten und genialen Zeilen.
MB: Gibt es ein Lieblingsbuch in Deinem Leben?
HH: »Lolita« von Nabokov sowie »Sein eigener Herr« und »Kirchenspielchronik« von Laxness.
MB: Was wünschst Du Dir, wenn Du im November zu uns nach München kommst?
HH: Weißbier vom Fass!
MB: Hast Du besondere Erwartungen?
HH: Ich freue mich einfach darauf. In München aus einem Buch zu lesen, das von meinem Jahr in München handelt, wird etwas Besonderes für mich sein. Wer weiß, vielleicht entsteht dabei ja sogar wieder die Idee zu einem neuen Buch?
MB: Mit was können wir Dir eine Freude machen?
HH: Naja … Mein Sohn (12) träumt von einem Bayern München Trikot mit Robben hinten drauf.
MB: Was sollen die Münchner nach Deiner Lesung von Dir sagen?
HH: Ich hoffe einfach, dass sie nicht wegen meiner Darstellung Münchens beleidigt sein werden. Hoffentlich können sie nachvollziehen, dass meine Einstellung zur Stadt damals eben sehr persönlich und speziell war.
HALLGRÍMUR HELGASON (Jahrgang 1959) ist einer der meistgelesenen Autoren Islands. Bevor er zu schreiben begann, studierte er Malerei in München, Paris und New York. Mit seinem Roman »101 Reykjavík«, der auch als Film in ganz Europa ein Erfolg wurde, gelang ihm international der Durchbruch.
MI 11.11.15
SEEKRANK IN MÜNCHEN
LESUNG MIT HALLGRÍMUR HELGASON & MICHAEL KRANZ
Moderation: Marion Bösker
Dolmetscherin: Aldís Björnsdóttir