Mi 8.5.19 // 20 Uhr // Saal
Foyer-Bar ab 19 Uhr

Herkunft

Lesung mit Saša Stanišić

»Wie der Soldat das Grammofon repariert«, sein Debüt aus dem Jahr 2006, wurde in 31 Sprachen übersetzt, für den Roman »Vor dem Fest« erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse 2014: Saša Stanišić ist einer der wichtigsten europäischen Erzähler der jüngeren Generation. Aus dem ehemaligen Jugoslawien stammend, stellt er in all seinen Büchern die Frage nach dem Woher. In »Herkunft« folgt er nun ganz konkret den Spuren seiner Familie und nimmt den ersten Zufall unserer Biografie zum Ausgangspunkt: Man wird irgendwo, von irgendwem geboren. So ist »Herkunft« ein großes Erinnerungsbuch – und ein sprachliches Meisterwerk (Luchterhand Literaturverlag).

»Am 7. März 1978 wurde ich in Višegrad an der Drina geboren. In den Tagen vor meiner Geburt hatte es ununterbrochen geregnet. Der März in Višegrad ist der verhassteste Monat, weinerlich und gefährlich. Im Gebirge schmilzt der Schnee, die Flüsse wachsen den Ufern über den Kopf. Auch meine Drina ist nervös. Die halbe Stadt steht unter Wasser.
Im März 1978 war es nicht anders. Als bei Mutter die Wehen anfingen, brüllte ein heftiger Sturm über der Stadt. Der Wind bog die Fenster vom Kreißsaal und brachte Gefühle durcheinander, und mitten in einer Wehe schlug auch noch der Blitz ein, dass alle dachten, aha, soso, jetzt also kommt der Teufel in die Welt. So unrecht war mir das nicht, ist doch ganz gut, wenn Leute ein bisschen Angst haben vor dir, bevor es überhaupt losgeht. Nur gab all das meiner Mutter nicht unbedingt ein positives Gefühl, den Geburtsverlauf betreffend, und da die Hebamme mit der gegenwärtigen Situation ebenfalls nicht zufrieden sein konnte, Stichwort Komplikationen, schickte sie nach der diensthabenden Ärztin. Die wollte, so wie ich jetzt, die Geschichte nicht unnötig verlängern. Es reicht vielleicht zu sagen, dass die Komplikationen mithilfe einer Saugglocke vereinfacht wurden.
Dreißig Jahre später, im März 2008, musste ich zum Erlangen der deutschen Staatsbürgerschaft unter anderem einen handgeschriebenen Lebenslauf bei der Ausländerbehörde einreichen. Riesenstress! Beim ersten Versuch brachte ich nichts zu Papier, außer dass ich am 7. März 1978 geboren worden war. Es kam mir vor, als sei danach nichts mehr gekommen, als sei meine Biografie von der Drina weggespült worden.«

Saša Stanišić »Herkunft« (Luchterhand Literaturverlag)