Anna hat alles im Griff. Sie dient einer »Herrin«, der Bulimie, denn es gibt nichts Wichtigeres für sie, als einen vollkommenen Körper zu besitzen und unangreifbar zu sein. Annas Eltern trennen sich, als ihre Mutter Katariina herausfindet, dass ihr Mann sie betrügt. Sie, die Estin, verleugnet ihre Herkunft, weil sie weiß, welch schlechtes Ansehen Estinnen in Finnland haben – sie gelten als russische Huren, die es geschafft haben, durch Heirat nach Finnland zu entkommen. Aus Angst, dass ihrer Tochter die gleiche Verachtung zuteil wird wie ihr, darf diese die Sprache nicht lernen und keinem sagen, woher die Mutter stammt. Dabei fahren die beiden regelmäßig nach Estland, um die Familie zu unterstützen, die das Grauen der sowjetischen Arbeitslager kennenlernte und unter den Bespitzelungen und Erpressungen durch enge Vertraute litt. Während Anna um ihr Gewicht kämpft und lernen muss, dass sie wirklich krank ist und die anorektische Bulimie sie umbringen kann, erfährt der Leser die Hintergründe der Familiengeschichte, Ursache für Annas Leiden, die bis in die Zeit der Besetzung Estlands nach dem Zweiten Weltkrieg zurückreicht.
In brillanter Sprache, mit genauer Kenntnis der historischen Hintergründe und einer meisterhaften Komposition beweist Sofi Oksanen schon mit ihrem Debütroman, der jetzt in der Übersetzung von Angela Plöger auch in Deutschland erschienen ist, warum ihre Romane weltweit gefeiert werden. Sie erzählt eine komplexe Familiengeschichte vor dem Hintergrund schwieriger gesellschaftlicher Reibungen und die Geschichte einer schweren Krankheit.
Sofi Oksanen, geboren 1977, Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters, studierte Dramaturgie an der Theaterakademie von Helsinki. Ihr dritter Roman, »Fegefeuer«, war monatelang Nummer eins der finnischen Bestsellerliste und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Finlandia-Preis sowie dem Literaturpreis des Nordischen Rates. Der Roman erschien in über vierzig Ländern. Sofi Oksanen ist verheiratet und lebt in Helsinki.