Simone Grolmann ist 52, etabliert und angesehen, Professorin für Verhaltensforschung, Mutter einer Tochter, ein analytischer Mensch. Und doch hat sie Angst. Angst vor Schnee. Die Angst ist tief in ihr, versunken wie der Breslauer Wald, durch den ihr Vater, sein behinderter Bruder Emil und Lilly, die Mutter der beiden, in der Nacht vom 19. auf den 20. Januar 1945 stapften, bei minus 21 Grad: drei Menschen mit drei durchweichten Pappkoffern. 17 Jahre vor Simones Geburt war das, und doch ist es ihre eigene Angst.
Eustachius Grolmann, 83, ist ein Kriegskind, 1945 aus Schlesien in den Westen geflohen. Noch immer wird er von den Erinnerungen an die Flucht und den Tod seines Bruders heimgesucht. Die Lebenswege seiner Familie kreuzen sich mit den Schicksalen einer aus Ostpolen nach Wroclaw vertriebenen Familie. In Ulrike Draesners neuem, virtuos geschriebenem Roman kommen vier Generationen zu Wort. Virtuos entwirft sie ein Kaleidoskop der Erinnerungen, die zeigen, wie die durch Flucht und Vertreibung ausgelösten Traumata weiterwirken und wie sich seelische Landschaften von einer Generation in die nächste weitervererben.