Moderation: Judith Heitkamp (Bayerischer Rundfunk)
Ein Hotelzimmer in Amsterdam: Ben wartet auf die Urne mit der Asche seiner Mutter Marlene. In einem Brief an seinen vierjährigen Sohn versucht er zu erklären, warum sich plötzlich alles verändert hat. Er lässt sein eigenes Leben Revue passieren, angefangen bei seinem Vater, einem Journalisten, der vor 40 Jahren im kolumbianischen Rebellengebiet entführt und ermordet wurde. Erst jetzt, nach dem Tod der Mutter, erkennt Ben, dass die Geschichte seiner Familie eine große Illusion ist. Der erste Roman des Historikers Philipp Blom (»Der taumelnde Kontinent« u.a.) erzählt von zerplatzten Träumen und lebenslangen Lügen (Zsolnay Verlag).
»Marlene, meine Mutter, deine Großmutter, ist in der Post verlorengegangen. Nicht, weil sie sich in einem riesigen Bürogebäude verlaufen hätte, nicht, weil sie alt und verwirrt war. Sie wurde nicht alt, und sie war ganz klar bis kurz vor ihrem Ende, als das Morphium ihr waches Bewusstsein trübte. Nein, als ordentliche und versicherte Paketsendung ging sie verloren, ging die Urne mit der Asche verloren, die von ihr übrig geblieben war. Deine Großmutter hätte diese Geschichte sicherlich komisch gefunden. Ich kann ihre Stimme hören, wie sie solche Sachen erzählte, alte, immer wieder aufpolierte Geschichten aus der Familie oder irgendwas, was sie im Radio gehört oder beim Friseur gelesen hatte, wo sie die Illustrierten nach Neuigkeiten über königliche Paare und ihre Familien durchkämmte (bis zu ihrem Tod war sie eine sentimentale holländische Monarchistin, sie liebte die Monarchie als etwas Schönes, so wie sie Hortensien liebte). Ich kann sie lachen hören, ein entferntes Echo des trompetenden Familienlachens. Sie liebte absurde Geschichten, und es hätte sie amüsiert, durch ihr Verschwinden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu bleiben. Sie ist buchstäblich nicht zu ihrem eigenen Begräbnis erschienen.«