Die Hulton Getty Picture Collection, 1957 vom britischen Verleger Edward Hulton gegründet, umfaßt heute 15 Millionen Fotografien aus dem 19. und 20. Jahrhundert und dokumentiert damit auf einzigartige Weise die Geschichte der Fotografie und des Fotojournalismus. Die Münchner Ausstellung konzentriert sich auf den Bereich Porträtfotografie und zeigt mit den Arbeiten von Cameron, Nadar, Carroll, Sasha und anderen die wichtigsten Vertreter aus der Frühzeit der Fotografie. Die Londoner Schickeria stand den Fotografen ebenso Modell wie die Repräsentanten der literarischen Welt: Stefan George im strengen Profil eines Renaissancefürsten, Yeats und Beckett als intellektuelle Brillenträger oder Dylan Thomas als naturverbundener Träumer. Nur Joyce dreht allen den Rücken zu.
WARUM HAT MATA HARI IHREN KOPF HINGEHALTEN?
Und warum Günter Grass und tausend andere? Vermutlich war den Modellen der zeitdokumentarische Aspekt weniger bewußt als den heutigen Betrachtern der großen Hulton Getty Ausstellung. Portraitfotografie ist mehr als eine möglichst getreue Wiedergabe der Realität. Sie wird nicht nur vom technischen Geschick des Fotografen im Umgang mit Kamera, Licht und Labor bestimmt. Von seinem Talent, die Kamera zu überlisten und aus ihrer Technik absolut Neues herauszuholen. Auch der Portraitierte ist am Entstehen maßgeblich beteiligt: erst sein Verhalten vor der Kamera, seine Gesten und Mimik führen im Dialog mit dem Fotografen zu einem charakteristischen Portrait.
AUSGANGSPUNKT: DAS PALÄOZOIKUM DER FOTOGRAFIE
Lassen Sie die letzten hundert Jahre des Fotografischen Zeitalters Revue passieren. Von John Ruskins »Carte de Visite« zu den glamourösen Portraits von Sasha, dem Starfotografen der Edwardianischen Schickeria im London der 20er und 30er Jahre. Oder das Kaleidoskop der literarischen Welt – aufgenommen, als Schriftsteller Popstars waren und ihr Leben in Zeitungen und Magazinen aufmerksam verfolgt wurde: Stfean George, abgelichtet im Stil eines Renaissancefürsten, Yeats und Becket als bebrillte Intellektuelle, Arthur Miller, ausnahmsweise ohne Marilyn. Und James Joyce dreht allen den Rücken zu. Teile der Ausstellung sind der Musik, der Bühne und der bildnerischen Kunst gewidmet. So werden zum Beispiel die Hände des Pianisten Svjatoslav Richter gezeigt oder Hockney und Christo inmitten ihrer Werke. Der Glanz Hollywoods überlebt in Portraits von Mary Pickford, Jean Harlow und Buster Keaton. Studien aus der ehemaligen Sammlung Baron führen in die Welt des Ballets. Aber auch die vielen weniger priviligierten Menschen werden in Berufsportraits repräsentiert.
DAS ENDE EINER ÄRA IST DER ANFANG EINE MYTHOS
Trotz Beschränkung auf ein einziges Genre war die Auswahl der einzelnen Portraits keine leichte Aufgabe: angesichts von geschätzen 15 Millionen Bildern der Hulton Getty Picture Collection. Der formale, inhaltliche und historische Facettenreichtum der gezeigten Arbeiten läßt die Bedeutung der Sammlung erahnen. Heute, da digitale Bildmedien die Ära der klassischen Fotografie langsam beenden, ist ihre Faszination imer noch spürbar – genau wie vor etwa 100 Jahren, als sich mit Eugène Delacroix ausgerechnet ein Maler ganz besonders für dieses Medium begeisterte.